Der verbotene Schlüssel
gleißendem Licht. Schlagartig begriff sie, dass Theo sie genau davor hatte warnen wollen. Er kannte wie sie den Mythos von Ys . König Gradlon und Gwenole hatten ihre Augen verhüllt, um vom Stundenwächter nicht geblendet zu werden. Sophia erinnerte sich mit Grausen an Doktor Sibelius’ Bemerkung über die gerichtsmedizinische Untersuchung von Ole Kollin.
Dabei stellte man fest, dass die Netzhaut deines Großvaters Verbrennungen aufwies, so als hätte er zu lange in die Sonne geblickt …
»Da ist ein Torweg«, stieß Theo hervor. Er deutete zu einer Durchfahrt im Wohnhaus.
Sophia verdrängte die unheilvollen Gedanken, um sich auf das Naheliegende zu konzentrieren. Die Flucht. Und das Überleben. Theo kannte sich in ihrer Zeit nicht aus. Von jetzt an musste sie die Führung übernehmen.
10
D ie Stille in der Durchfahrt war trügerisch. Das wusste Sophia, und deshalb lief sie so schnell wie möglich, aber so langsam wie nötig, um nicht den Argwohn von Passanten, Anwohnern oder gar der Polizei zu wecken. Theo hielt mühelos mit ihr Schritt. Mit großen Augen nahm er staunend die vielen neuen Eindrücke in sich auf.
Sophia kannte dieses Netz aus Hinterhöfen, und sie wusste, dass es mit der Ruhe gleich vorbei sein würde. Vor drei Jahren hatte sie erstmals die Hackeschen Höfe besucht. Mit ihren Eltern. Weniger als zwölf Monate später waren Rasmus und Alisa Kollin gestorben. Herzstillstand. Autounfall. Verbrannt.
Oros?
Die Frage, ob tatsächlich der sogenannte Herrscher der Zeit ihre Eltern ermordet und es womöglich sogar noch auf sie, die Jüngste im Stammbaum der Kollins, abgesehen hatte, ließ sich nicht mehr aus dem Sinn verbannen. Zumindest von Ersterem war ihr Großvater ziemlich überzeugt gewesen.
»Ich hätte ihm das Nürnberger Ei auch nicht gegeben«, sagte sie, um das lastende Schweigen zu beenden.
Theo schüttelte den Kopf. »Darum ging es nicht. Ich wollte nur nicht offen zugeben, dass wir es im Tornister mit uns herumtragen …«
»Das nennt man Rucksack«, unterbrach sie ihn gereizt.
»Wie auch immer. Wenn Oros befürchten muss, dass wir es irgendwo versteckt haben, wird er es sich dreimal überlegen, ob er uns hinterrücks umbringt.« Theo reckte prüfend die Nase in die Luft. »Was macht ihr eigentlich mit euren Fäkalien?«
Sie blinzelte irritiert. »Was?«
»Als ich zuletzt in Nürnberg war, hat es überall danach gestunken. Und nach faulenden Abfällen und Tierkadavern.«
»Wir sind jetzt modern und haben Kanalisation«, antwortete sie gereizt. Hatte Theo den Verstand verloren?
»Modern?« Er lachte. Sie erreichten das Ende des Torwegs. Noch war von den Verfolgern nichts zu sehen. »Vor zweitausend Jahren, als ich in Rhodos lebte, gab’s auch schon Abwasserkanäle. Mein Meister hatte sogar ein eigenes Bad. Und ich habe regelmäßig Heublumen für ihn ins Wasser gestreut, um seine Gicht zu lindern. Anscheinend habt ihr nur wiederentdeckt, was die alten Griechen seit Langem zu schätzen wussten.«
Sophia glaubte zu verstehen, warum dieser Bursche so anders roch, als sie es vermutet hatte. Sein Sinn für Körperpflege schien nicht im Mittelalter, sondern in der Antike zu wurzeln. Gerne hätte sie ihn tausend Dinge gefragt, aber mit den Verfolgern im Nacken war daran nicht zu denken. Ihr schwirrte auch so schon der Kopf.
Sie durchquerten jetzt den sogenannten Theaterhof. Neben dem Hackeschen Hoftheater gab es hier ein Café, eine Kunstbuchhandlung, eine Galerie und viele Menschen. Die Hackeschen Höfe gehörten schließlich zu Berlins beliebtesten Touristenattraktionen.
Mit weit ausholenden Schritten gelangten sie in eine weitere Durchfahrt und dahinter in den Endellschen Hof, gewissermaßen das Entree der zwischen 1906 und 1907 entstandenen Geschäfts- und Wohnanlage. Hier tummelten sich die meisten Besucher, fotografierten die schönen verfliesten Fassaden, ließen sich das Essen in den angrenzenden Restaurants schmecken, kauften Karten fürs Kino oder Varieté. Sophia und Theo eilten gerade am Restaurant Hackescher Hof vorbei, als sich aus dem Mischmasch von Geräuschen um sie herum eine fast schon sirenenhafte Stimme erhob.
»Stehen bleiben! Sofort stehen bleiben!«
»Nichts wie weg!«, rief Sophia und begann zu laufen.
»Stehen bleiben! Sofort stehen bleiben!«, wiederholte die Sirene mit mechanischer Präzision.
Die zwei durchquerten noch einen Torweg mit dicht bekritzelten und beklebten Wänden; Besucher aus aller Welt hatten sich daran verewigt. Und dann lagen die
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