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Der verbotene Schlüssel

Titel: Der verbotene Schlüssel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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berührt …
    Die warnenden Worte von Ole Kollin waren schreckliche Wirklichkeit geworden. Oros musste diese Gefolgsleute auf dem Weg hierher »rekrutiert« haben – mit einer Berührung seiner unverhüllten Hand. Vielleicht waren sie ihm auch schon viel länger zu Diensten. Jetzt jedenfalls staksten sie auf seinen Befehl hin wie Zombies auf das Mädchen und den Jungen zu.
    Unvermittelt fühlte sich Sophia am Arm gepackt und weggezerrt.
    »Man hat es wirklich nicht leicht mit dir«, beklagte sich Theo.
    »Das ist eine jüdische Gedenkstätte.«
    »Ja und?«
    »Die sind gewöhnlich abgesichert.«
    »Gut! Vielleicht beschützen uns die Posten vor Oros’ willenlosen Schergen.«
    »Ich fürchte eher, dass wir gleich vor einer Mauer oder einem Zaun stehen.« Während Theo sie durch ein Gestrüpp zog, blickte sie sich zu den Verfolgern um. Ihre Zahl war inzwischen auf zwanzig oder mehr angewachsen. Wie schon bei Sophias Flucht vor dem Postboten legte der Stundenwächter keine übermäßige Eile an den Tag. Er vertraute wohl auf die Übermacht seiner Marionetten.
    Theos Stimme lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorn.
    »Eine Palisade.«
    Sie warf den Kopf herum und stöhnte. Theo hatte das Hindernis mit seinem antiken Wortschatz nicht ganz zutreffend beschrieben. Vor ihnen ragte aus einer Wiese ein schwarzgrauer Metallzaun auf, hoch genug, um Friedhofsschänder mit brauner Gesinnung zur Umkehr zu bewegen. Dahinter lag, so empfand es Sophia, eine unerreichbar ferne Idylle: ein Hof mit Kopfsteinpflaster, einem hübschen Blumenbeet, einem kleinen Kunstpavillon aus Glas und Beton und einem alten fünfgeschossigen Wohnhaus. Sie stöhnte.
    »Die Zinken sind ziemlich stumpf. Das ist gut«, bemerkte Theo so unaufgeregt, als spräche er von einem Kamm.
    Sophia war weniger optimistisch. »Ich schaff das nicht da rüber.«
    »Mit neun bin ich mal über eine römische Befestigung aus Spitzpfählen geklettert. Das da ist auch nicht schlimmer.« Er bückte sich, umfasste ihre Oberschenkel, und ehe sie sichs versah, hing sie am Zaun. »Beeil dich«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Oros’ Schergen sind gleich da. Du musst dich hochziehen.«
    »Was meinst du, was ich hier tue?«, ächzte sie. Ihre Sportarten waren Skifahren, Schwimmen und Volleyball. Als Ausbrecherin besaß sie weniger Erfahrung.
    Unvermittelt erschien Theo neben ihr. Er war einfach am Gitter hochgesprungen, hatte die dünnen Metallstäbe gepackt und hangelte jetzt an ihr vorbei. Noch vor Sophia erreichte er das obere Ende des Zauns, das wie eine Harke in die Höhe ragte. Nachdem er den linken Arm zwischen zwei Zinken hindurchgeschoben und mit der Querstrebe unter der Achsel festen Halt gefunden hatte, griff er nach Sophias Hand und zog sie weiter hinauf.
    »Keine Bewegung«, rief hinter ihnen eine krächzende Stimme.
    Sophia hielt unwillkürlich inne und drehte sich um. Die Alte, die zuvor mit den Toten gesprochen hatte, war nur noch drei oder vier Schritte von der Barriere entfernt. Ihr Blick wirkte gläsern, die Augen waren so kalt wie Kameraobjektive. Neben ihr traten weitere Männer und Frauen aus den Büschen, während sie als Erste die Hand nach dem Fuß des Mädchens ausstreckte. Hektisch schwang Sophia das Bein über den Zaun.
    »Geht das auch etwas schneller?«, drängte Theo zur Eile.
    Sie kam sich vor wie in einem Albtraum, in dem nur noch sie beide aus Fleisch und Blut waren. In dieser Horrorvision wurden sie von lebenden Wachsfiguren gejagt, deren menschliches Äußeres kaum über ihr Inneres hinwegtäuschen konnte – das war mechanisch und kalt, ohne Willen und Gefühl …
    Erst als Sophia auf der anderen Seite des Zaunes hart auf den Pflastersteinen landete, kehrte ihr Geist in die Wirklichkeit zurück. Theo – er musste sie ein gutes Stück heruntergelassen haben – sprang neben ihr herab.
    »Hast du dir wehgetan?«
    Sie schüttelte den Kopf und blickte beklommen durchs Gitter. »Geht schon.« Von der anderen Seite, nur einen Schritt weit von ihnen entfernt, starrten sie aus emotionslosen Gesichtern die Verfolger an. Irgendetwas hielt sie davon zurück, das Hindernis zu ersteigen. Ihre leeren Augen waren ohne Hass. Aber auch ohne jedes Erbarmen. Mit einem Mal wichen die Männer und Frauen auseinander und Oros trat zwischen ihnen an den Zaun.
    »Theo«, sagte er. Seine Stimme klang angestrengt, doch nicht unfreundlich. »Ich bin froh, dich nach so vielen Jahren bei guter Gesundheit zu sehen.«
    Der verbindliche Ton des

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