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Der Verdacht

Der Verdacht

Titel: Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Vorhang aufgefallen, und von den tanzenden Frauen und Männern, von der Anatomie und vom Kreuz hatte er nichts gesehen; doch nun auch von Besorgnis erfüllt, die ihm diese unbekannte Welt einflößte: «Nun, Schwester, das ist ein merkwürdiges Zimmer für ein Spital, das doch die Leute gesund machen soll und nicht verrückt.»
    «Wir sind auf dem Sonnenstein», antwortete die Schwester Kläri und faltete die Hände über dem Bauch. «Wir gehen auf alle Wünsche ein», schwatzte sie, leuchtend vor Biederkeit, «auf die frömmsten und auf die andern. Ehrenwort, wenn Ihnen die Anatomie nicht paßt, bitte. Sie können die Geburt der Venus von Botticelli haben oder einen Picasso.»
    «Dann schon lieber Ritter, Tod und Teufel», sagte der Kommissär.
    Schwester Kläri zog ein Notizbuch hervor. ‹Ritter, Tod und Teufel›, notierte sie. «Das wird morgen montiert. Ein schönes Bild für ein Sterbezimmer. Ich gratuliere. Der Herr haben einen guten Geschmack.»
    «Ich denke», antwortete der Alte, über die Grobheit dieser Schwester Kläri erstaunt, «ich denke, soweit ist es mit mir wohl noch nicht.»
    Schwester Kläri wackelte bedächtig mit ihrem roten fleischigen Kopf. «Doch», sagte sie energisch. «Hier wird nur gestorben. Ausschließlich. Ich habe noch niemanden gesehen, der die Abteilung drei verlassen hätte. Und Sie sind auf der Abteilung drei, da läßt sich nichts dagegen machen. Jeder muß einmal sterben. Lesen Sie, was ich darüber geschrieben habe. Es ist in der Druckerei Liechti in Walkringen erschienen.»
    Die Schwester zog aus ihrem Busen ein kleines Traktätchen, das sie dem Alten auf das Bett legte: ‹Kläri Glauber: Der Tod, das Ziel und der Zweck unseres Lebenswandels. Ein praktischer Leitfaden.›
    Ob sie nun die Ärztin holen solle, fragte sie triumphierend.
    «Nein», antwortete der Kommissär, immer noch das Ziel und den Zweck unseres Lebenswandels in den Händen. «Die habe ich nicht nötig. Aber den Vorhang möchte ich auf der Seite. Und das Fenster offen.»
    Der Vorhang wurde zur Seite geschoben, das Licht erlosch.
    Auch die Nachttischlampe drehte der Alte aus.
    Die massige Gestalt der Schwester Kläri verschwand im erleuchteten Rechteck der Türe, doch bevor sich diese schloß, fragte er:
    «Schwester, noch einmal! Sie geben auf alles unverblümt genug Antwort, um mir auch hier die Wahrheit zu sagen: Gibt es in diesem Haus einen Zwerg?»
    «Natürlich», kam es brutal vom Rechteck her. «Sie haben ihn ja gesehen.»
    Dann schloß sich die Türe.
    «Unsinn», dachte er. «Ich werde die Abteilung drei verlassen. Das ist auch gar keine Kunst. Ich werde mit Hungertobel telefonieren. Ich bin zu krank, um irgend etwas Vernünftiges gegen Emmenberger zu unternehmen. Morgen kehre ich ins Salem zurück.»
    Er fürchtete sich und schämte sich nicht, es zu gestehen.
    Draußen war die Nacht und um ihn die Finsternis des Zimmers. Der Alte lag auf seinem Bett, fast ohne zu atmen.
    «Einmal müssen die Glocken zu hören sein», dachte er, «die Glocken Zürichs, wenn sie das neue Jahr einläuten.»
    Von irgendwoher schlug es Zwölf.
    Der Alte wartete.
    Von neuem schlug es von irgendwoher, dann noch einmal, immer zwölf unbarmherzige Schläge. Schlag um Schlag, wie Hammerschläge an ein Tor von Erz.
    Kein Geläute, kein, wenn auch noch so ferner Aufschrei irgendeiner versammelten, glücklichen Menschenmenge.
    Das neue Jahr kam schweigend.
    «Die Welt ist tot», dachte der Kommissär und immer wieder: «Die Welt ist tot. Die Welt ist tot.»
    Auf seiner Stirne spürte er kalten Schweiß, Tropfen, die langsam an seiner Schläfe entlangglitten. Die Augen hatte er weit aufgerissen. Er lag unbeweglich. Demütig.
    Noch einmal hörte er von ferne zwölf Schläge, über einer öden Stadt verhallend. Dann war es ihm, als versinke er, in irgendein uferloses Meer, in irgendeine Finsternis.
    Im Morgengrauen wachte er auf, in der Dämmerung des neuen Tags.
    «Sie haben das neue Jahr nicht eingeläutet», dachte er immer wieder.
    Das Zimmer war bedrohlicher denn je.
    Lange starrte er in die beginnende Helle, in diese sich lichtenden, grüngrauen Schatten, bis er begriff:
    Das Fenster war vergittert.

Doktor Marlok
    « D a wäre er nun aufgewacht», sagte eine Stimme von der Türe her zum Kommissär, der nach dem vergitterten Fenster starrte. Ins Zimmer, das sich immer mehr mit einem nebligen, schemenhaften Morgen füllte, trat im weißen Ärztekittel ein altes Weib, wie es schien, mit welken, verschwollenen Zügen, in

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