Der Verehrer
geöffnet, war dann heraufgekommen, wo Lisa im Bad stand und sich die Lippen nachzog. »Polizei«, hatte er gewispert, »zwei Beamte. Sie wollen zu Ihrem Vater!«
»Das geht jetzt nicht. Was wollen die?«
»Ich weiß nicht. Sie sehen furchtbar ernst aus.«
Sie war die Treppe hinuntergegangen, und die Tragödie hatte ihren Anfang genommen. An einem warmen Tag, ohne Vorwarnung.
Leute aus dem Dorf hatten Anna im Wald gefunden, an einen Baum gefesselt, von Messerstichen übersät. Die Frau hatte einen Schock erlitten, befand sich in ärztlicher Behandlung. Der Mann hatte die Leiche als Anna Heldauer identifiziert, »die Tochter vom Heldauer Johann«. Nun müsse jemand aus der Familie mitkommen – jemand müsse sie offiziell identifizieren, der Anblick sei nicht schön, aber …
»Nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen«, hatte Benno gesagt, »ich bleibe bei Ihrem Vater.«
Sie war mit den Beamten gegangen und hatte bestätigt, daß es sich bei der Toten aus dem Wald um ihre Schwester handelte.
Nun beugte sie sich noch einmal über Anna, schlug ein Kreuz über ihrer hohen, blassen Stirn. Sechzehn Tage nachdem man sie gefunden hatte, war sie erst zur Beisetzung freigegeben worden, ewig lange hatte man sie untersucht. Lisa hatte Anna so lange nicht gesehen, sie hatten einander schon als Kinder so wenig nahegestanden, daß es ihr nun vorkam, als nehme sie Abschied von einer Fremden. Aber dennoch zog sich etwas in ihrem Innern zusammen und verursachte einen bohrenden Schmerz: Es war ihre Schwester! Neben Vater der einzige Mensch, den sie noch gehabt hatte. Ihr Vater würde sie bald verlassen. Dann blieb sie allein zurück.
»Es konnte kein gutes Ende nehmen mit ihr«, murmelte Johann, als sie sich nun zum Gehen wandten. »lch habe es immer gesagt … So, wie sie gelebt hat, das mußte bös’ ausgehen mit ihr!«
Immerhin hat sie besser gelebt als ich, dachte Lisa bitter, sie hat sich rechtzeitig abgeseilt. Mir hat sie den Vater überlassen, mitsamt seinem Krebs und seinem endlosen, jammervollen Sterben.
Sie hatte Anna so sehr dafür gehaßt in den letzten Jahren, daß es ihr nun schwerfiel, diesen Haß in ein Gefühl von Milde und Mitgefühl umzuwandeln – Gefühle, die man zweifellos hegen mußte für eine Schwester, die auf so furchtbare Weise ums Leben gekommen war. Anna hatte ein schlimmes Schicksal erlitten; vor allem anderen verdiente sie Mitleid.
Ich bin ein schlechter Mensch, dachte Lisa, wenn ich dieses Mitleid nicht aufbringen kann. Wenn ich es nicht einmal jetzt aufbringen kann.
»Komm, Vater«, sagte sie, »wir müssen jetzt in die Aussegnungshalle hinüber. Die anderen warten schon.«
»Die anderen« – das war das ganze Dorf. Der Mord an Anna hatte hohe Wellen geschlagen. Keiner ließ es sich nehmen, zur Beerdigung zu kommen. Sie standen da in ihren schwarzen Anzügen und schwarzen Kostümen, Blumen in der Hand, starrten Lisa und ihren Vater an. Seit jenem Tag war der Strom der Beileidsbezeugungen nicht abgerissen.
Echtes Mitleid? fragte sich Lisa. Oder Sensationsgier? Jetzt ist doch endlich einmal etwas los in diesem gottverlassenen Ort! Etwas, worüber sie an jeder Straßenecke tratschen können, was Reporter angelockt und diesen gänzlich unwichtigen Flecken Erde in die Zeitung gebracht hat. So etwas hat sich doch jeder von denen schon immer gewünscht. Und nun werden sie mit betroffenen Mienen am Grab stehen und innerlich schon vibrieren vor Ungeduld, daß sie endlich nach Hause gehen und sich mit den Nachbarn austauschen können. Wie schlecht der Johann ausgesehen hat, und wie schamlos kurz der Rock von Lisa gewesen ist … Und keiner von denen hat wirklich etwas mit Anna zu tun. Nicht einer.
Aber wer hatte schon etwas zu tun gehabt mit Anna in
den letzten Jahren? Falls es Freunde und Bekannte gab, so hatte Lisa sie nicht unterrichten können. Niemand wußte, wo sich Anna während der letzten sechs Jahre herumgetrieben hatte. Als sie damals mit ihren knapp achtzehn Jahren von daheim aufgebrochen war, kurz nach dem Tod der Mutter, weil sie »diese spießige Kleinbürgerwelt« einfach nicht mehr aushielt, hatte sie Südamerika im Sinn gehabt.
»Herumtrampen, heute hier, morgen da, nicht wissen, was kommt, ohne Gestern und Morgen, nur den Augenblick zählen lassen«, so hatte sie ihr Vorhaben beschrieben. Lisa, die Jüngere, hatte neidisch und mit riesigen Augen zugehört, aber der Vater, damals noch gesund und stark, hatte Bedenken geäußert.
»Das ist viel zu gefährlich für eine
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