Der Verehrer
er jeden Gedanken daran. Wenn er etwas verabscheute, dann war es Sentimentalität.
Das Schweigen dauerte an, verdichtete sich. Das Essen vor ihnen auf dem Tisch war kalt geworden. Der Rotwein
in den Gläsern hatte die Farbe von altem Granatschmuck. Draußen rauschte der Regen. Das Gewitter hatte sich verzogen.
Als Leona das Schweigen endlich brach, hätte Wolfgang sie dafür am liebsten umarmt. Selbst die bittersten Vorwürfe schienen ihm erträglicher als diese unheilschwere Stille.
Überraschend sachlich fragte Leona: »Wie lange geht das schon?«
Er hatte sich vorgenommen, ihr keine Antwort schuldig zu bleiben und ehrlich zu sein.
»Ein knappes halbes Jahr.«
»Also seit Februar.«
»Seit Mitte März.«
»Wer ist sie?«
»Eine Kollegin.«
»Kenne ich sie?«
Er zögerte. »Ich weiß nicht. Sie gehört nicht zu den Kollegen, die ich ab und zu einlade. Es kann aber sein, daß du ihr schon im Sender begegnet bist, wenn du mich dorthin begleitet hast.«
»Tritt sie im Fernsehen auf?«
»Sie macht Dokumentarfilme. Frauenprobleme, hauptsächlich. Im nächsten Jahr soll sie eine eigene Talkshow bekommen. «
Leona hatte einen angestrengten Ausdruck in den Augen.
Es muß sie eine Menge Kraft kosten, mir diese Fragen so ruhig zu stellen, dachte Wolfgang. Sie sagte ihm später, was sie so angestrengt habe, sei das Bemühen gewesen, durch ihre Betäubung zu dringen. Es sei schwierig für sie gewesen, ihre eigenen Gedanken zu ordnen und in Worte zu fassen.
»Du warst heute nachmittag nicht im Sender«, sagte sie.
»Nein.«
Sie war weiß wie eine Wand. »Hast du mit ihr geschlafen?«
Man muß die Ehrlichkeit nicht auf die Spitze treiben, dachte Wolfgang.
»Nein«, sagte er und sah, daß sie ihm nicht glaubte.
»Für ein halbes Jahr«, sagte sie leise, »für ein halbes Jahr mit ihr willst du unsere vielen Jahre einfach wegschmeißen! «
»Nicht für ein halbes Jahr mit ihr. Für eine Zukunft mit ihr.«
»Und da bist du dir ganz sicher?«
»Lieber Himmel, Leona, was heißt schon sicher?«
Er hatte sich das Rauchen abgewöhnt, aber nun verlangte es ihn plötzlich nach einer Zigarette. Zum Glück war keine im Haus. Er befand sich noch immer in dem Stadium, in dem eine einzige Zigarette ihn hätte rückfällig werden lassen.
»Wie sicher kann man sich überhaupt jemals sein? Aber ich sehe eine gute Chance für uns beide, für sie und mich, und ich möchte die Möglichkeiten nutzen, die sich für uns daraus ergeben.«
Er merkte, wie geschraubt das klang. Aber hätte er sagen sollen: »Ich habe mich in diese Frau verliebt. Es geschah ganz plötzlich, und ich konnte nichts dagegen tun. Es ist ein Gefühl, wie ich es noch nie gekannt habe. Oder vielleicht habe ich es auch schon gekannt, aber das ist lange her, wie aus einem anderen Leben.«
Er hätte ihr damit nur noch mehr weh getan. Also nahm er Zuflucht zu Floskeln, die so wenig wie möglich von seinen Gefühlen verraten sollten.
Sie lachte kurz auf. »Wie schön! Und du siehst bei ihr Möglichkeiten für dich, die du bei mir nicht findest?«
Es war die alte Frage: Was hat sie, was ich nicht habe? Er
hätte sie gerne gebeten, ihm dieses Verhör zu ersparen, aber er fühlte sich als der Schuft in dieser Geschichte und sah es als eine Art gerechte Strafe an, diese Situation nun durchstehen zu müssen.
»Das hat alles gar nicht so viel mit dir zu tun, Leona«, sagte er und kam sich dabei völlig klischeehaft vor. Alles an dieser Situation war so abgegriffen. Es war, als folge man einem vorgeschriebenen Ritual: die gleichen Fragen, die gleichen Antworten, millionenfach durchgespielt auf der Welt. Die Opfer stellten immer die gleichen Fragen. Die Täter gaben immer die gleichen Antworten.
»Wir sind schon so furchtbar lange zusammen, Leona, daran liegt es vielleicht. Wir waren ja fast noch Kinder, als wir einander kennenlernten. Seither kleben wir aneinander wie siamesische Zwillinge. Keiner von uns hatte je die Gelegenheit, etwas anderes auszuprobieren. Keiner von uns hatte die Chance herauszufinden, wie es ist, mit einem anderen Menschen zu leben, zu streiten, zu lachen, sich zusammenzuraufen, mit ihm…«
»… mit ihm zu schlafen«, vollendete Leona den abgebrochenen Satz. Sie klang bitter.
»Ja«, sagte Wolfgang, »zu schlafen. Das natürlich auch.«
Leona spürte, wie die Betäubung langsam von ihr wich. Von den vielen schützenden Schleiern, die sich um sie gewunden hatten, zerriß einer nach dem anderen. Nicht alle, zum Glück. Noch konnte der
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