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Der Verehrer

Der Verehrer

Titel: Der Verehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Frau allein. Was glaubst du, was da alles passieren kann? In diesen südamerikanischen Staaten gibt es andauernd Revolutionen und Aufstände, und ständig putscht das Militär. Da schert sich kein Mensch darum, was mit einer Ausländerin passiert, die in der Gegend herumreist. Da kann es dir passieren, daß du abgemurkst und irgendwo verscharrt wirst, und kein Mensch erfährt etwas davon!«
    Anna hatte gelacht und die Unkenrufe ihres Vaters in den Wind geschlagen. Lisa sah sie noch vor sich am Tag ihrer Abreise: strahlend und gut gelaunt, braungebrannt von unzähligen Sonnenbädern in den Lechauen, die honigfarbenen Haare fielen ihr lang und lockig den Rücken herab, und um Hals und Handgelenke klimperte billiger Türkisschmuck aus dem Alternativladen. Es erschien Lisa tragisch, daß sich die düsteren Prophezeiungen ihres Vaters bewahrheitet hatten, wenn auch letztlich anders als gedacht: Nicht in Südamerika hatte Anna ihr Leben verloren, sondern ganz in der Nähe ihres Zuhauses, gleich bei
dem kleinen Dorf nahe Augsburg, in dem sie aufgewachsen war, in einem der Wälder, in denen sie als Kind gespielt hatte. Sie hatte offenbar nach Hause gewollt, und kurz vor dem Ziel war sie ihrem Mörder begegnet.
    Nach sechs Jahren, dachte Lisa, warum kam sie heim? Nach all der Zeit, in der sie uns nicht ein einziges Lebenszeichen hat zukommen lassen, wollte sie plötzlich zurück. Warum?
    Sie versuchte die Blicke der Leute und ihr Getuschel zu ignorieren, als sie durch die Stuhlreihen der Aussegnungshalle nach vorn ging. Schwer stützte sich ihr Vater auf sie.
    3
    Warum regnet es auf einmal so viel? fragte er sich. Er betrachtete die Fensterscheibe, gegen die der Regen platschte. Es schüttete wie aus tausend Eimern. Die Bäume bogen sich im Sturm. Von fern grollte der Donner. Ein heftiges, lautes Sommergewitter. Seit einer Woche gab es das fast jeden Abend. Mit literweise Regen und Windböen, die nicht selten Bäume entwurzelten und Blumenkästen von den Balkonen herunterschlugen. Keine langen, lauen Gartennächte mehr in diesen letzten Augusttagen. Der Sommer nahm mit Getöse Abschied. Der September werde regnerisch und kühl beginnen, prophezeiten die Meteorologen.
    Wolfgang fühlte eine schwere Mattigkeit in allen Knochen, die es ihm schwermachte, sich zu erheben, zu duschen, sich anzuziehen. In einen dunkelgrünen Bademantel gehüllt, war er auf einen Küchenstuhl gesunken, hatte sich Kaffee eingeschenkt, der noch vom Nachmittag dort stand. Er war inzwischen kalt, aber Wolfgang hätte jetzt
nicht einmal die Energie aufgebracht, sich frischen zu kochen. Er mußte dringend nach Hause, es wartete noch genügend Arbeit auf ihn. Warum fühlte er sich so matt, so zerschlagen?
    Nicole kam in die Küche. Im Unterschied zu Wolfgang schien sie förmlich überzusprudeln vor Energie. »Warum schaust du denn so mürrisch drein? Bist du meiner etwa überdrüssig?« Sie trat hinter ihn und legte beide Arme um ihn. Sie drückte ihr Gesicht an seine Wange. Ihre langen Haare fielen bis auf den Tisch.
    »Sag bloß, du trinkst den kalten Kaffee? Kein Wunder, daß du schlechte Laune hast!«
    »Ich habe keine schlechte Laune.«
    »Natürlich! Schau dich doch mal an. Komm, ich mach’ dir frischen Kaffee.« In der für sie charakteristischen quirligen Geschäftigkeit wollte sie sogleich anfangen, in der Küche herumzuwirtschaften, aber Wolfgang hielt sie am Arm fest.
    »Nein. Ich muß sowieso gleich gehen. Ich weiß auch nicht, warum ich hier so lethargisch herumsitze.«
    Sie wurde ernst, betrachtete ihn prüfend, setzte sich dann ihm gegenüber an den Tisch. »Ich weiß schon, warum es dir nicht so gutgeht im Moment«, sagte sie bedächtig. Sie spielte mit ihrer leeren Kaffeetasse herum, die hier seit dem Mittag stand, seitdem Wolfgang gekommen war und sie zusammen Kaffee getrunken hatten, ehe sie ins Bett gegangen waren. »Heute ist der 31. August.«
    Er seufzte. »Ja. Heute ist der 31. August.« Das Datum schien wie ein Bleigewicht auf ihm zu lasten. Seine Schultern sanken ein wenig nach vorne
    »Was hast du Leona gesagt, wohin du gehst?«
    »In den Sender. Es hätten sich da ein paar Probleme ergeben …«

    »Sie ahnt überhaupt nichts?«
    »Gestern hat sie gemeint, ich hätte mich verändert. Ich sei so … unausgeglichen und gereizt. Ich habe gesagt, ich sei überarbeitet.«
    Nicole starrte auf ihre Tasse, sah Wolfgang nicht an.
    »Um deinetwillen«, sagte sie, »mußt du diese Situation bald klären. Deine Nerven schleifen ziemlich am

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