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Der Verehrer

Der Verehrer

Titel: Der Verehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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blinkte. Sechs Anrufe waren im Lauf des Tages eingegangen,
aber keiner stammte von Wolfgang. Der letzte kam von Leonas Mutter.
    »Hallo, mein Schatz, es ist gleich halb neun. Wo steckst du? Ich wollte mit dir plaudern, aber offensichtlich habe ich Pech! Du hast das ganze Wochenende nichts von dir hören lassen. Melde dich doch mal!«
    Die vertraute Stimme tat Leona gut, vermochte aber nicht ihre Unruhe zu vertreiben. Sie lief die Treppe hinauf. Dieselbe völlige Ruhe wie unten empfing sie. Sie schaute ins Schlafzimmer, knipste das Licht an. Auf den ersten Blick erschien alles wie immer. Sie öffnete die Türen der Kleiderschränke. Sofort sah sie, daß eine ganze Reihe seiner Anzüge fehlte, außerdem Wäsche, Hemden, Pullover, Strümpfe. Sie rannte in sein Arbeitszimmer hinüber. Die katastrophale Unordnung auf Schreibtisch und Beistelltischen hatte sich gelichtet. Zwar hatte er natürlich nicht alles wegräumen können. Aber eine Menge Bücher, Papier-stapel, Akten waren verschwunden.
    Zumindest teilweise war Wolfgang ausgezogen. Eindeutig. Leona lief wieder hinunter. Im Eßzimmer schenkte sie sich einen doppelten Whisky ein und kippte ihn in einem Zug hinunter. Sie nahm gleich noch einen zweiten, und da sie fast nichts gegessen hatte den ganzen Tag über, wurde ihr sogleich schwindelig, und der schön gemauerte Kamin an der Längsseite des Raumes schwankte ein wenig.
    Sie sank auf einen der Stühle und stützte den Kopf in die Hände. Sie bemühte sich, einen klaren Gedanken zu fassen, aber der Alkohol und all das Unfaßbare der letzten vierundzwanzig Stunden vermengten sich zu einem Chaos, in dem sie nirgendwo einen roten Faden zu finden vermochte. In ihr hämmerte nur immerzu der Gedanke, daß sie Wolfgang unwiederbringlich verloren hatte, und dazu die Frage, wie sie über so lange Zeit nichts davon
hatte bemerken können. Ihre Welt war von einem Moment zum anderen in sich zusammengestürzt. Wenn es Vorbeben gegeben hatte, so hatte sie diese nicht gespürt. Wie satt, wie zufrieden, wie schläfrig mußte sie gewesen sein. Schwerfällig und gutgläubig. Eine ausgemachte Idiotin.
    Sie merkte, daß sie im Augenblick zu nichts weiter fähig war als zu einer endlosen Kette von Selbstvorwürfen und daß sie bald halb betrunken und in Tränen aufgelöst am Tisch sitzen würde. Ihre Großmutter Eleonore (von der sie ihren Namen hatte, aber wehe, jemand nannte sie so!) hatte als Heilmittel für jede Gelegenheit immer heiße Milch mit Honig bereitgehalten, für Tränen wegen eines aufgeschlagenen Knies ebenso wie wegen einer schlechten Schulnote. Plötzlich von Sehnsucht gepackt nach der Großmutter und nach einer Zeit, in der sie sich umsorgt und beschützt gefühlt hatte, stand Leona auf. Sie ging in die Küche hinüber, nahm Milch aus dem Kühlschrank, setzte einen Topf auf den Herd, nahm ihren dicken Keramikbecher vom Regal. »Leona« stand darauf in blauer Schnörkelschrift. Wolfgang hatte den gleichen Becher. Irgend jemand hatte sie ihnen einmal geschenkt.
    Man hatte ihnen überhaupt oft Dinge geschenkt, dachte Leona, die in irgendeiner Weise Zusammengehörigkeit symbolisierten. Silberkettchen mit den Anfangsbuchstaben des jeweils anderen als Anhänger, Serviettenringe, in die » L&W « eingraviert war. Im Freundeskreis galten sie als Traumpaar. Ausgeschlossen, daß gerade sie sich trennen könnten.
    Für eine ganze Menge Leute wird jetzt eine Welt einbrechen, dachte Leona. Während sie darauf wartete, daß die Milch warm wurde, fiel ihr Robert wieder ein. Es hatte sie erschüttert zu hören, daß er die Frau, die er hatte heiraten wollen, auf so schreckliche Weise verloren hatte.

    »Was?« hatte sie gefragt und war stehengeblieben. »Ertrunken? «
    »Sie war eine leidenschaftliche Seglerin. Und Schwimmerin. Sie war verrückt nach allem, was mit Wasser zu tun hatte. An jenem Tag zog sie allein mit ihrem Boot los. Sie fragte mich noch, ob ich sie begleiten wolle, aber ich hatte zu viel zu tun. Also ging sie allein.«
    Seine Stimme klang gleichmütig. Aber das kannte Leona schon. Auch von Eva hatte er in diesem Tonfall gesprochen. Nur seine Augen verrieten, was in ihm vorging.
    Sie waren weitergegangen durch die dunklen Straßen. Nässe hing in der Luft.
    »Ein Sturm kam auf. Die Frühjahrsstürme können heftig sein da unten. Ich war so vertieft in meine Arbeit, ich merkte es kaum. Erst spät realisierte ich, daß draußen ein Unwetter tobte. Ines erschien und erschien nicht. Irgendwann lief ich zum See. Dann

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