Der Verehrer
losgehen, zumindest verbal, wollte sie keineswegs mit von der Partie sein. »Es ist fast neun Uhr.«
»Bleiben Sie doch noch«, sagte Robert, »Lydia meint, wir sollten unbedingt etwas essen. Ich habe gerade gedacht, wir könnten Pizza bestellen für uns alle. Sicher haben Sie auch Hunger, Leona.«
Allein der Gedanke an Essen erzeugte Übelkeit in ihr. Und auf einmal erwachte auch ein fast panisches Gefühl: Ich sitze hier und vertrödele meine Zeit. Zeit, in der ich mit Wolfgang reden könnte. Vielleicht …
Eine irrwitzige Hoffnung keimte in ihr: Vielleicht war es noch nicht zu spät. Vielleicht brauchten sie nur ein vernünftiges Gespräch. Kein Geschrei wie in der letzten Nacht. Ruhige, sachliche Überlegungen, wie sie ihre gemeinsame Zukunft retten konnten.
»Danke, aber ich muß wirklich gehen.«
Sie hatte den Eindruck, daß sie plötzlich schrill und hektisch klang.
»Sind Sie mit dem Auto da?« fragte Robert.
»Nein. Aber ich wohne nur ein paar Straßen entfernt.«
Robert stellte seine Kaffeetasse ab. »Ich begleite Sie. Es ist schon stockdunkel draußen, und Frankfurt ist nicht gerade ein idyllisches Dorf.«
Sie lächelte. »In den idyllischen Dörfern geschehen immer die schlimmsten Dinge.«
»Ich weiß. Aber ganz harmlos sind die großen Städte auch nicht.«
»Auf jeden Fall brauchen Sie nicht auch noch naß zu werden. Bleiben Sie hier. Ich habe es wirklich nicht weit.«
Er bestand darauf mitzukommen, und schließlich willigte sie ein. Sie verabschiedete sich von Bernhard und Lydia. Diese schleppte gerade eine große Kiste mit Porzellan in ihre Wohnung.
»Ich rufe Sie in den nächsten Tagen einmal an, Leona«, sagte sie, und resigniert erkannte Leona, daß sie diese neue Bekanntschaft kaum so schnell würde loswerden können.
Es hatte aufgehört zu regnen, als sie auf die Straße traten, aber die Luft war sehr kühl geworden, und beide erschauerten sie unwillkürlich.
»Es ist schon richtig herbstlich«, sagte Leona, und der Gedanke tat ihr weh, obwohl sie den Herbst immer geliebt hatte. Wer würde sie jetzt in kalten Nächten wärmen? Mit wem würde sie abends vor dem Kamin sitzen, lesen, plaudern, Wein trinken? Mit wem würde sie an den Wochenenden in den Taunus hinausfahren und stundenlang durch neblige Wälder streifen?
Alles vorbei, dachte sie, alles vorbei.
Der Anflug von Optimismus, der sie vorhin auf die Beine und aus der Wohnung getrieben hatte, löste sich bereits wieder in nichts auf. Vor der regenschweren, feuchtkalten Düsternis des Abends vermochte er nicht zu bestehen.
»Wissen Sie, ich will keinesfalls indiskret sein«, sagte Robert, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander hergegangen waren. »Aber schon den ganzen Abend frage ich mich, weshalb eine so schöne Frau so traurig aussieht. So … schrecklich verletzt.«
»Finden Sie, ich sehe so aus?«
Er nickte. »Ja. Tieftraurig. Selbst wenn Sie lächeln. Das
war noch nicht so bei Evas Beerdigung. Aber heute abend fiel es mir sofort auf.«
Irgendwie fehlte ihr die Kraft, alles abzustreiten, sich auf Müdigkeit, Streß, Ärger im Verlag zu berufen. Er hätte es ohnehin nicht geglaubt. Sie sah traurig aus, nicht abgehetzt.
»Es ist eine sehr persönliche Angelegenheit«, wehrte sie ab.
Eine Weile erwiderte er nichts. Schließlich sagte er: »Ich glaube, ich bin vor eineinhalb Jahren auch für lange Zeit mit diesem Ausdruck in den Augen herumgelaufen. Das war, als meine Verlobte gestorben ist. Ich konnte den Verlust nicht verkraften.« Ein paar Sekunden lang hing er eigenen Gedanken nach. »Das ist es immer, was uns am schlimmsten trifft, nicht? Der Verlust eines Menschen, der uns nahesteht. Es ist schlimmer als Krankheit. Es macht krank. Letztlich ist ja auch Eva mit genau diesem Problem nicht fertig geworden.«
Sie wandte sich ihm zu, betroffen über seine Worte. »Ihre Verlobte ist gestorben?«
»Ja. Sie ist ertrunken im Lago Maggiore.«
Das Haus lag leer und dunkel, als sie eintrat, aber die Hitze der vergangenen Wochen hing noch zwischen den Mauern, und es war angenehm warm in allen Räumen. Sie stellte ihre Tasche gleich im Flur ab und ging ins Wohnzimmer, ins Eßzimmer, in die Küche. Überall herrschte Stille.
»Wolfgang?« rief sie halblaut, obwohl sie wußte, er war nicht da. Sein Auto hatte weder in der Garage noch auf der Straße gestanden. Es war halb zehn. Montags kam er normalerweise nicht nach halb acht heim. Andernfalls hinterließ er eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Das Gerät
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