Der Verehrer
mehr«, erklärte Lisa, »und mein Vater ist schwer krank. Krebs. Wir …«
Sie brach hilflos ab und zuckte mit den Schultern, überzeugt, daß er niemals eine so vage Erklärung akzeptieren würde. Aber offenbar begriff er, denn er nickte sehr nachdenklich.
»Ich verstehe«, sagte er. Er überlegte eine Weile, dann fragte er: »Haben Sie irgendeine Idee, wo Ihre Schwester all die Jahre gewesen sein könnte?«
»In Südamerika. «
»In Südamerika? Wie kommen Sie darauf?«
»Dorthin wollte sie damals«, erklärte Lisa, »als sie fortging. «
»Und Sie nehmen an, sie hat diesen Plan durchgezogen?«
»Sie war entschlossen. Sie hatte schon lange von Südamerika geträumt.«
»Aber sie hat von dort nie eine Karte oder etwas Ähnliches geschickt?«
»Nein.«
»Sie kann von Südamerika nicht ohne Papiere hierhergekommen sein.«
»Bestimmt hatte sie ihre Papiere noch, ehe sie … nun, ehe sie dem Mörder begegnete«, meinte Lisa. »Er hat sie ihr dann abgenommen.«
»Warum?«
»Wie?«
»Na ja – warum sollte er ihr die Papiere abnehmen?«
»Er hat ihr wahrscheinlich die ganze Brieftasche geklaut. Weil er ihr Geld wollte. Und da war dann eben auch ihr Ausweis dabei.«
»Die Dinge passen hier alle nicht so recht zusammen, Frau Heldauer«, sagte Hülsch, »ein Raubüberfall war das nicht. So wie der Kerl Ihre Schwester zugerichtet hat, sie an einen Baum gefesselt hat … das weist auf einen Psychopathen hin. Einen Irren, der entweder Frauen haßt oder eine perverse Art von Triebbefriedigung empfindet, wenn er wehrlose Menschen quält.«
Lisa lief ein Schauer über den Rücken.
»Für gewöhnlich«, fuhr Hülsch fort, »klauen diese Typen kein Geld. Daran sind sie gar nicht interessiert.«
Lisa war der Ansicht, daß jeder Mensch, irr oder nicht, immer und vor allem an Geld interessiert war, aber sie mochte dem Kommissar nicht widersprechen.
Der schien bekümmert; er hatte von der Schwester des Mordopfers noch weniger Auskünfte erhalten, als er befürchtet hatte. Die ganze Sache war verworren und undurchdringlich. Er hatte keine Ahnung, wie er Licht in das Dunkel bringen sollte.
»Es ist zu dumm, daß wir keinen Anhaltspunkt haben, woher sie gekommen ist«, sagte er, »dadurch wird sie gewissermaßen zu einer Frau ohne Vergangenheit. Nichts, wo man einhaken könnte.«
»Aber der Mord hat bestimmt nichts mit ihrer Vergangenheit zu tun«, widersprach Lisa, »sie ist doch hier umgebracht worden! Im Wald gleich beim Dorf! Das war jemand aus dieser Gegend, nicht jemand von dort, wo sie hergekommen ist.«
»Da war kein Gepäck«, sagte der Kommissar, mehr zu sich selbst als zu Lisa. »Man kommt doch nicht nach sechs
Jahren nach Hause zurück ohne Gepäck! Man geht aber mit dem ganzen Gepäck auch nicht durch den Wald.« Er machte sich eine Notiz auf einem Zettel. »Schließfächer in den Bahnhöfen Augsburg und München überprüfen.«
»Sie wird getrampt sein«, meinte Lisa, »und der Mörder hat sie mitgenommen. Ihr Gepäck ist noch in seinem Auto. Sie ist schon früher immer getrampt. Sie ist nie anders gereist. «
»Das ist möglich. Natürlich. Aber ebensogut ist es möglich, daß der Täter etwas mit ihrer Vergangenheit zu tun hat. Daß er ihr gefolgt ist – oder sie selber hierhergebracht hat.«
»Das ist kaum herauszufinden.«
»Ja.« Er klopfte mit seinem Kugelschreiber nervös auf dem Schreibtisch herum. » Südamerika «, murmelte er. »Sie war sehr braungebrannt, am ganzen Körper. Sie muß sich irgendwo aufgehalten haben, wo viel Sonne ist. Sie hatte diese sehr tiefe Bräune, die über Jahre entsteht. Sie war nicht in Deutschland!«
Tolle Schlußfolgerung, hatte Lisa gedacht und war enttäuscht gewesen von dem Mann. Natürlich war Anna nicht in Deutschland gewesen! In dem verregneten, kalten Land, in dem der Sommer höchstens als schlechter Scherz durchgehen konnte. Nein, Anna hatte sich irgendwo eine phantastische Zeit gemacht!
Und nun mußte sie immer wieder an dieses Gespräch denken und viel zu oft an Anna. Obwohl es gerade erst September war, dachte sie ständig an den Herbst, den bevorstehenden Winter, an Weihnachten. Mehr als im Sommer wünschte sie sich, die Dinge rundherum wären in Ordnung. Die Familie wäre intakt. Zum erstenmal hegte Lisa die Vorstellung, wie schön es hätte sein können, wenn Anna ihr Ziel erreicht hätte, wenn sie zu Hause angekommen
wäre. Sie hätten an langen Herbstabenden zusammensitzen und plaudern können, sie hätten einander in der Pflege des Vaters
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