Der Verehrer
die Einsamkeit, aufs Spiel gesetzt.
Das Klavierkonzert ging in leises Moll über. Die Schneeschauer draußen wurden heftiger. Lydias rechte Hand spielte mit der weißen Karte, die neben ihrem Teller lag.
Wolfgang Dorn hatte sie hiergelassen. Sie solle ihn anrufen, wenn ihr etwas Wichtiges einfiele, hatte er gesagt und dabei sicher nicht gewußt, welch ein köstliches Gefühl er ihr mit diesem Satz bereitete. Es war wie ein Sonnenstrahl an einem verregneten Tag gewesen. Sie war wichtig! Ein fremder Mann hatte sie hier besucht, hatte auf ihrem Sofa gesessen, hatte Informationen von ihr haben wollen. Hatte sie gebeten, sich Gedanken zu machen.
Sie hatte sich Gedanken gemacht. Er hatte es nicht klar ausgesprochen, aber nachdem er weg gewesen war, hatte sie sich manches zusammengereimt: Offenbar waren Leona, seine Frau, von der er getrennt lebte, und Robert Jablonski, Evas Bruder, ein Paar. Robert hatte Leonas Telefonnummer haben wollen. Leona hatte sich kurz vor Weihnachten intensiv nach ihm erkundigt. Nun tauchte ihr Noch – Ehemann auf und erkundigte sich ebenfalls … Eifersüchtig war er gewesen. Lydia wußte, wie Eifersucht roch, durch Eva wußte sie es nur zu gut.
Robert und Leona … Lydia seufzte. Warum waren manche Frauen einfach so privilegiert? Trafen einen wildfremden Mann, den sie normalerweise nie kennengelernt hätten, durch einen Zufall, einen verrückten Zufall, und – bingo! Ein paar Blicke, ein paar Worte, ein Lächeln, und schon blühte die Romanze. Manchmal malte sich Lydia aus, wie es sein mußte, von einem Mann begehrt zu werden. Ihm gegenüberzusitzen an einem Tisch und in seinen Augen zu lesen, daß er am liebsten jetzt gleich … auf dem Tisch …
Sie seufzte wieder. Nicht weiterdenken. Frauen wie ihr, das wußte sie, billigte man nicht einmal den Gedanken an Sex zu. Als würden häßliche Frauen ohne Unterleib geboren. Als hätten sie über Essen und Trinken hinaus keinerlei Bedürfnisse.
Müßige Gedanken. Das Klavierkonzert schwoll zu einem rauschenden Finale an. Langweilig, bieder und unattraktiv, wie sie war, war ihr doch etwas eingefallen bei ihrem ständigen Grübeln über Robert und Leona. Das, worüber sie schon die ganze Zeit nachgegrübelt hatte, seit ihrem Gespräch mit Leona bereits …
Aber heute konnte sie Wolfgang Dorn nicht anrufen. Die Karte gab lediglich seine Büronummer preis, und im Büro würde er am Sonntag nicht anzutreffen sein. Oder doch? In Fernsehsendern mußte auch sonntags gearbeitet werden. Vielleicht, wenn sie es einfach versuchte … Wenn sie ihn erreichte, wenn es sich als wichtig erwies, was sie zu sagen hatte, wenn er sie lobte – es würde ein Licht in diesen trüben, ereignislosen Tag fallen.
Sie ging zum Telefon, wählte die angegebene Nummer. Hinter ihr verstummten die letzten, leisen Klavierklänge. Wolfgang Dorn war sofort am Apparat. So viel Glück konnte Lydia kaum fassen!
16
Sie saßen auf der Piazza im Sonnenschein, tranken einen Wein und hatten jeder einen gewaltigen Eisbecher vor sich stehen. Leonas Eis schmolz langsam vor sich hin; grüne, braune und weiße Kugeln begannen bereits zu einer undefinierbaren Mischfarbe zusammenzulaufen. Leona hatte nur die Waffel aus dem Becher gezogen und zerbröselte sie zwischen den Fingern. Sie starrte vor sich hin.
»Dein Eis schmilzt« mahnte Robert. »Willst du nicht anfangen zu essen?«
Leona blickte auf. »Ich habe gesagt, ich möchte kein Eis. Wenn du es trotzdem bestellst, mußt du es eben essen.«
»Ich habe ja schon meines gegessen. Willst du, daß ich platze?«
Sie zuckte mit den Schultern. Ihr Blick glitt über den blauglitzernden See. Die Sonnenstrahlen tanzten flimmernd auf den kleinen Wellen. Es war warm wie im Frühsommer. Die Knospen an all den Bäumen und Büschen ringsum brachen an diesem Tag auf wie in einer gewaltigen Explosion. Ein Farbenmeer ergoß sich über das Tal.
Es hätte so wunderbar sein können, dachte Leona.
Robert, der mit seiner Sonnenbrille und in dem lässigen, weißen T-Shirt wie ein Hollywood-Schauspieler aussah, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und hob beide Hände in einer dramatischen Geste der Hilflosigkeit.
»Mea culpa! Was soll ich noch tun? Willst du dich in dein Gekränktsein einhüllen für den Rest unseres Urlaubs?«
»Ich weiß gar nicht, ob ich diesen Urlaub noch machen will«, sagte Leona und schnippte die Waffelbrösel vom Tischtuch.
»Leona, sei mir nicht böse, aber du bist wirklich die am schnellsten eingeschnappte Frau, die ich je
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