Der Verehrer
wie sich seine Züge veränderten, wie alle Wärme und Zärtlichkeit aus ihnen wich, wie sie sich verzerrten und einen fremden Menschen aus ihm machten – einen Menschen, der auf einmal bedrohlich, gefährlich erschien.
Seine Hand schoß auf Leona nieder wie ein Raubvogel auf ein Kaninchen; mit schmerzhaftem Griff umklammerte er ihr rechtes Handgelenk.
»Der Ring!« stieß er hervor. Er war kalkweiß geworden. »Wo ist er? Wo, zum Teufel, hast du den Ring gelassen?«
15
Lydia saß bei einem ihrer einsamen, ausgedehnten Sonntagsfrühstücke und starrte zum Fenster hinaus auf die Dächer der gegenüberliegenden Häuser, über denen ein Schneeschauer niederging. Nirgendwo schienen sich Blütenknospen zaghaft zu öffnen. Aber das war kein Wunder angesichts der anhaltenden Kälte und des schlechten Wetters. Zog sich der Winter jedes Jahr so lange hin?
Wahrscheinlich tut er das, dachte Lydia, man vergißt es nur. Man denkt immer, mit dem ersten März müßte der Frühling ausbrechen, aber das passiert natürlich nie. Sie hatte sich Musik angemacht, irgendein Klavierkonzert, die Heizung bis zum Anschlag aufgedreht, Kaffee und ein weiches Ei gekocht, Toastbrot, Käse und Schinken aufgetischt,
aber wie meist saß sie ohne jeden Appetit davor. Es machte einfach keinen Spaß allein. Niemand, mit dem sie plaudern konnte. Niemand, der sich an dem hübsch gedeckten Tisch mit dem Tulpenstrauß in der Mitte freute. Niemand, mit dem sie Pläne machen konnte, wie man den Rest des Tages verbringen sollte.
Lydia hatte vor langer Zeit schon die Hoffnung begraben, einmal eine eigene Familie, einen Mann und Kinder, zu haben. Inzwischen war sie ohnehin zu alt. Mit dreiundfünfzig Jahren konnte sie keine Kinder mehr bekommen, und einen Mann …
Samstags las sie immer die Heiratsannoncen in der Zeitung. Es gab durchaus bindungswillige Männer ihres Alters oder sogar deutlich darüber, Witwer, Geschiedene, die das Alleinsein satt hatten. Viele suchten allerdings junge Frauen, aber nicht alle. Manchen war eine Dreiundfünfzigjährige keineswegs zu alt.
Ein einziges Mal, vor zwei Jahren, hatte sie Evas Ermutigungen nachgegeben und auf eine Annonce geantwortet, in der ein sechzigjähriger Herr eine neue Beziehung, Heirat nicht ausgeschlossen, suchte. Sie war damals gerade einundfünfzig gewesen, und Eva hatte gemeint, da könne überhaupt nichts schiefgehen.
»Er ist neun Jahre älter als du! Er kann sich glücklich schätzen, etwas so Junges wie dich zu bekommen!«
»Aber ich bin so dick!«
»Wahrscheinlich ist er viel dicker. In dem Alter haben die meisten riesige Bierbäuche. Hab bloß keine Komplexe!«
Der Abend war ein einziger Reinfall gewesen. Der Herr, den Lydia in einem sehr teuren Restaurant traf, hatte auch nicht den leisesten Ansatz eines Bauches und sah so gut aus, daß es Lydia fast die Sprache verschlug. Sie verbrachte vier qualvolle Stunden ihm gegenüber, in denen sie ständig
an ihrem zu engen Rock zupfte oder an ihren Haaren, die der Friseur am Morgen in eine neue Dauerwelle gelegt hatte. Sie hatte den Eindruck, eine riesige, aufgeplusterte Haube aus Haar und Festiger auf dem Kopf zu tragen, stahlhart und nicht einmal durch einen Wirbelsturm zu zerstören. Sie konnte nur »ja« und »nein« sagen und wußte nicht, wie man einen Hummer aß. Sie hatte den Mann nach dem Abend nicht wiedergesehen und sich geschworen, sich nie wieder auf ein solches Abenteuer einzulassen, auch wenn Eva stets gesagt hatte, man dürfe sich von einem Fehlschlag nicht entmutigen lassen.
Eva …
Wie sehr ihr Eva doch fehlte! Gerade sonntags hatten sie oft miteinander gefrühstückt. Eva, die unfähig war, auch nur ein Ei zu kochen, war immer zu Lydia herübergekommen. Dann hatten sie stundenlang zusammengesessen und geplaudert, und Lydia war fröhlich gewesen, auch wenn Eva im Grunde nur ein einziges Gesprächsthema gekannt und es wieder und wieder aufgetischt hatte: ihren geschiedenen Mann. Seine Verfehlungen. Seine Untreue.
Manchmal hatte Lydia das Gefühl beschlichen, daß Eva ein wenig neurotisch mit dem Thema umging. Aber sie hatte sich gehütet, Zweifel laut werden zu lassen. Instinktiv wußte sie, daß Evas Freundschaft zu ihr im Grunde nur darauf beruhte, daß sie bei ihr ewiges Verständnis und bedingungslose Unterstützung fand. Sie krallte sich an Lydia fest, weil diese der letzte Mensch war, der sich noch bereiterklärte, ihr zuzuhören. Um nichts in der Welt hätte Lydia diese kostbare Beziehung, dieses letzte Bollwerk gegen
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