Der Verehrer
seiner Frau erzählt. Diese war der Meinung, er müsse sich unbedingt bei der Polizei melden. Sie redete wohl so lange auf ihn ein, bis er wirklich bei uns auftauchte.«
»Kann es sein … er ist der Täter?«
Der Kommissar zögerte. »Ich habe das natürlich auch überlegt«, sagte er dann, »aber ich halte es für sehr unwahrscheinlich. Warum sollte er sich nach einem dreiviertel Jahr, in dem ihm niemand auf die Spur gekommen ist, plötzlich melden und in Verdacht bringen? Das wäre außerordentlich töricht von ihm. Niemand, der auch nur ein bißchen Verstand hat, würde das tun.«
»Außer, er ist ein Psychopath. Der es gar nicht erträgt, daß er abseits des von ihm angezettelten Geschehens steht, und der daher versucht, sich selbst wieder irgendwie ins Spiel zu bringen.«
Der Kommissar lächelte, was Lisa nicht sehen, aber irgendwie spüren konnte.
»Sie denken ja richtig kriminalistisch! Tatsächlich gibt es das häufiger: ein Täter, der zwar nicht gefaßt werden will, der aber zugleich darunter leidet, daß wegen des Nichtentdecktwerdens sein Geltungstrieb unbefriedigt bleibt. Ohne daß sie das wirklich vorhaben, tun solche Leute mitunter alles, um am Ende doch noch gefaßt zu werden – und haben dann endlich die Aufmerksamkeit, nach der es sie verlangt.«
»Eben«, sagte Lisa.
Diesmal ahnte sie sein Kopfschütteln. »Der Typ ist er nicht. Der Mensch, der Ihre Schwester ermordet hat, muß einen Defekt haben, der an Geistesgestörtheit grenzt. So, wie er sie verstüm … wie er sie zugerichtet hat, meine ich. Unser Mann hier ist ein harmloser Mensch. Er verkauft den Leuten Versicherungen und will ansonsten seine Ruhe haben.«
»Hm«, machte Lisa.
»Interessant ist jedoch«, fuhr Hülsch fort, »was er uns erzählt hat. Die beiden saßen ja eine Weile zusammen im Auto, und er hat sie gefragt, woher sie kommt. Sie sagte, sie komme aus Südspanien. Sie habe Weihnachten Ferien an der Costa del Sol gemacht und anschließend dort im Hotel gejobbt, um Geld zu verdienen. Was die Weihnachtsferien angeht, so deckt sich diese Aussage mit den Angaben dieses Callgirls, das sich bei Ihnen gemeldet hat.«
»Ja, aber es ist nichts Neues.«
Lisa war enttäuscht. Die Auskunft dieses Zeugen brachte die Ermittlungen sicher nicht voran.
»Warten Sie. Sie hat ihm des weiteren erzählt, wo sie die letzten Jahre verbracht hat. Und nun raten Sie mal, wo das war!«
»Ich weiß es nicht. Ich dachte, in Südamerika.«
»Von wegen. Sie war viel näher bei Ihnen, als Sie ahnen. Sie hat in Ascona gelebt. In der Schweiz.«
Lisa wußte, daß sie längst zum Gasthof hätte hinübergehen müssen. Es war unmöglich, wie sie ihre Gäste warten ließ. Aber sie hatte das Gefühl, das Gebrabbel der Leute nicht ertragen zu können. Ihr zog sich der Magen zusammen, wenn sie an Leberknödelsuppe in goldgerandeten Tellern dachte, an Schweinebraten und Klöße, an das gedämpfte Klappern des Bestecks und an die ganze miefige Tristesse eines Dorfgasthofs an einem kühlen Vorfrühlingstag.
Sie war in ihr Zimmer gegangen – vorbei an dem nun verwaisten Zimmer ihres Vaters – und hatte sich ihren alten Schulatlas aus dem Regal genommen. Dann hatte sie nachgeschlagen, wo Ascona lag. Vor dem Kommissar hatte sie nicht zugeben mögen, daß sie keine Ahnung hatte, wo sie sich diesen Ort geographisch vorzustellen hatte. Nun hatte sie ihn gefunden, in der italienischen Schweiz, und festgestellt, daß es stimmte: Anna war gar nicht so weit weg gewesen in all den Jahren.
»Der Fahrer, der sie mitgenommen hat«, hatte Hülsch berichtet, »fragte sie, weshalb sie denn einen paradiesischen Ort wie Ascona verlassen habe, um in das unwirtliche Deutschland zurückzukehren. Weshalb sie denn nicht wenigstens an der Costa del Sol geblieben sei. Sie wissen, es war ein Junitag, aber es war kalt, sagt der Zeuge, es nieselte.
Soweit er sich erinnert, hat ihm Anna irgend etwas in der Art geantwortet, sie sei nirgendwo sicher. Nur daheim, weil sie dort nicht allein sei. Sie habe ihre Schwester und ihren Vater um sich.«
Lisa hatte nach Luft geschnappt. »Anna hatte Angst. Sie war auf der Flucht. Dann ist sie nicht zufällig einem Irren in die Hände gefallen! Er hat sie verfolgt und kurz vor ihrem Ziel eingeholt.«
»Langsam. Das können wir nicht mit Sicherheit sagen. Sie kann trotzdem einem Kriminellen begegnet sein. Wir wissen nicht, wovor sie sich in Sicherheit bringen wollte. Vielleicht vor einer Tragödie, die sie in Gedanken verfolgte.
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