Der Verehrer
«
»Nein, das glaube ich nicht. Eine Frau erklärt, sie sei nirgendwo sicher, nur daheim, weil dort andere Menschen um sie sind. Kurz darauf wird sie in ein Waldstück geschleppt und niedergemetzelt. Da liegt doch die Vermutung äußerst nahe, daß sie dem Menschen begegnet ist, vor dem sie solche Angst hatte.«
Hülsch hatte eingeräumt, daß manches für die Richtigkeit dieser Theorie spreche.
»Eine Reihe von Fragen bleibt allerdings offen«, hatte er hinzugefügt. »Der Mensch, vor dem sie solche Angst hatte, wer auch immer das war – wie kam er genau im richtigen Moment an den richtigen Ort? Wie hat er ihr folgen können? Der Fahrer, der Anna mitgenommen hat, hat sie nach eigenen Angaben an der Abzweigung der Straße zu ihrem Heimatdorf abgesetzt. Die letzten zwei Kilometer wolle sie zu Fuß gehen, hat sie gesagt. Er war knapp in der Zeit, bot ihr daher nicht an, sie rasch noch hinüberzufahren. Weit und breit war kein anderes Auto zu sehen. Unmittelbar ist ihr niemand gefolgt.«
»Dann ist er vielleicht kurz danach aufgetaucht. Das
letzte Stück Landstraße bis zum Dorf ist sehr einsam. Da kann sie leicht jemand ins Auto gezerrt haben.«
»Das war dann aber perfektes Timing.«
»Vielleicht war er ihr seit Südspanien auf den Fersen.«
»Und bringt sie hier um? Hier, wo jeder sie kennt, wo ihre Leiche sofort identifiziert werden kann? Warum hat er sie nicht irgendwo an der Costa del Sol getötet und verscharrt? Es hätte sie nie jemand gesucht!«
Ja, dachte Lisa nun, es hätte sie nie jemand gesucht. Welch ein Armutszeugnis für unsere Familie.
Sie lauschte in die Stille des Hauses hinein. Ein Haus ohne Stimmen. Ohne die Erinnerung an Stimmen sogar. Von Mamas Stimme wußte Lisa schon lange nicht mehr, wie sie geklungen hatte. Auch von Anna war nichts mehr zu hören, kein Lachen, kein Weinen. Kein Flüstern, kein Schreien. Kein Echo ihrer Stimme schwang mehr zwischen den Wänden.
Und selbst die Erinnerung an die Stimme des Vaters verklang bereits. Am Morgen hatte Lisa noch sein Stöhnen im Ohr gehabt, seine zittrigen Rufe nach ihr. Jetzt hörte sie kaum noch etwas davon. Als könne das Haus nichts festhalten von den Menschen, die in ihm gelebt hatten.
Fröstelnd schlang Lisa beide Arme um ihren Körper. Der Atlas, in dem sie nach Ascona gesucht hatte, rutschte von ihren Knien. Sie bemerkte es kaum. Sie hatte nicht gewußt, daß Einsamkeit so weh tun, einen so stechenden körperlichen Schmerz erzeugen konnte.
Ich werde das Haus verkaufen, dachte sie, so schnell wie möglich. Und werde das Dorf verlassen. So schnell wie möglich.
Sie stand auf und trat ans Fenster. Wie an jedem Tag ihres Lebens fiel ihr Blick auf den Wald jenseits der Kirche. Der Wald, in dem Anna ermordet worden war. Auch aus seinen Bäumen klang kein Schrei.
4
Seit dem Tod der Katze war nichts mehr wie vorher. Ein Hauch von Angst lag über jedem Tag, über jeder Nacht. Leona hatte Dolly, entgegen ihrer ursprünglichen Absicht, nicht gleich am nächsten Tag begraben, sondern zu einem Tierarzt gebracht, der die Todesursache feststellen sollte. Nach seiner Diagnose war Dolly an Rattengift gestorben.
»Genug, um sie umzubringen«, sagte er, »aber doch nur so viel, daß sie nicht sofort gestorben ist, sondern sich noch nach Hause schleppen konnte.«
»Glauben Sie, jemand hat ihr ganz gezielt diese entsprechende Dosis zugeführt?« fragte Leona. »Um sie zu töten, sie aber bis nach Hause gelangen zu lassen, damit ich es auch mitbekomme?«
Der Tierarzt zog die Augenbrauen hoch. »Haben Sie da einen bestimmten Verdacht?«
»Es bestünde die Möglichkeit«, sagte Leona vorsichtig.
»Hm. Auszuschließen wäre es nicht. Aber Rattengift liegt leider in vielen Gärten oder Parkanlagen herum. Ihre Katze kann sehr gut zufällig daran geraten sein.«
Leona ging mit der toten Dolly heim und begrub sie unter einer Tanne im Garten. Überall blühten jetzt die Forsythien, und das Gras war bunt von Krokussen. Wie hätte Dolly den Frühling geliebt, dachte Leona, ihren ersten Frühling! Sie war noch so jung gewesen.
Sie wagte es nicht mehr, Linda nach draußen zu lassen. Nur wenn sie selbst an den Wochenenden im Garten arbeitete, nahm sie die Katze mit hinaus, behielt sie aber immer scharf im Auge. Linda hatte sich nach dem Tod ihres Geschwisterchens sehr eng an Leona angeschlossen. Sie schlief nachts an sie gekuschelt bei ihr im Bett, lag sofort
auf ihrem Schoß, wann immer sich Leona irgendwo hinsetzte. Sie maunzte kläglich vor dem
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