Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)
durch das kleine Guckloch im hölzernen Fensterladen und beleuchtete den Feigenbaum im Garten des Chiostro Grande. Fra Antonino war noch wach! Und das Fenster neben seinem Bett stand offen!
Ich legte den Zeigefinger an die Lippen und schob Tayeb in Richtung der Kirche über die knirschenden Ziegel - direkt unter uns befanden sich die Zellen der Fratres. Nur wenige Schritte von der Kirche entfernt setzten Tayeb und ich uns auf die Ziegel und ließen uns auf das Vordach des zweiten Kreuzgangs des Konvents hinabgleiten.
Das vierte Fenster - dort war es.
»Lass mich das machen!« Tayeb schob sich an mir vorbei vor den Fensterladen. Und wenn er verriegelt war? Mit der Hand drückte Tayeb gegen das kleine Türchen des Gucklochs - es ließ sich lautlos offen. Dann lehnte er sich gegen den Fensterladen, schob den rechten Arm bis zur Schulter durch die Öffnung und tastete nach dem Riegel in der Fensternische. Der quietschte leise, als er an ihm zog.
Misstrauisch beobachtete ich die drei Fenster hinter mir. Kein Licht - die Mönche schliefen.
Tayeb schob den Fensterladen auf und kletterte in Cosimos Zelle. Ich folgte ihm und schloss hinter mir das Fenster.
Der Raum war verlassen. Das Bett war mit weißem Linnen bezogen, der Schreibtisch leer geräumt bis auf Tintenfass, Sandstreuer, Schreibfedern, ein Bündel Pergamente und die lateinische Bibel. Während des Besuchs von Patriarch Joseph in meinem ›Trödelladen‹ hatte Cosimo mir erzählt, dass er sich nach Beendigung seiner Amtszeit als Bannerträger der Republik für einige Tage nach San Marco zurückziehen wollte.
Tayeb stieg die Stufen hinab zum Vorraum und öffnete die Zellentür, um den Korridor in Augenschein zu nehmen. Dann winkte er mir.
Lautlos schlichen wir an den Zellen der Mönche vorbei durch den Korridor, der zum Eingang des Bibliothekssaals führte. Aus einer Zelle erklang ein leises Seufzen. Ein Bett knarzte in schnellem Rhythmus. Ein Keuchen, ein unterdrücktes, lustvolles Stöhnen. Dann wurde es wieder still.
Aus der Zelle gegenüber vernahm ich die klatschenden Hiebe einer Geißel. Ich schrak zusammen und lauschte auf das vertraute Geräusch, das ich in so vielen Nächten aus Lucas Schlafgemach gehört hatte. Die Hiebe auf den blutenden, kreuz und quer vernarbten Rücken. Das schmerzliche Stöhnen. Die gemurmelten Gebete, die doch niemals erhört worden waren. Und Lucas qualvoller Blick, als er mich in der offenen Tür bemerkte ...
Jeder seiner Hiebe hatte mein Herz blutig geschlagen und meine Seele in Fetzen gerissen! Wie oft war ich aus dem Palazzo d'Ascoli geflohen, um diesem grausamen Geräusch zu entgehen! Wie oft war ich nach Rom geflüchtet, nach Venedig und Ferrara, um das Leben in mir zu spüren, um ertragen zu können, was er mir mit seinem Selbsthass antat.
Tayeb ergriff meine Hand und zog mich mit sich fort.
Die Tür von Serafinos Zelle stand weit offen - der Raum war dunkel und verlassen. Und dort war das Portal der Bibliothek, wo er gestorben war. Ich fühlte mich plötzlich sehr einsam und rang mit den Tränen. Tayeb, der spürte, was in mir vorging, wartete geduldig neben der Treppe, bis ich mich gefasst hatte. Dann folgte ich ihm die gewundene Stiege hinab und den Gang entlang zum Kreuzgang.
Ich blieb stehen und blickte empor zu Fra Antoninos Zellenfenster oberhalb des Säulengangs. Die Kerze war erloschen - der Prior hatte sich zur Ruhe begeben.
Wir wandten uns nach rechts, zur Tür unter den Arkaden des Kreuzgangs, die in die Kirche führte. Das Tor war nicht verschlossen, wie Niketas gesagt hatte. Durch einen kleinen, schmucklosen Raum betraten wir die Basilica di San Marco, tasteten uns durch die Finsternis zum Altar und entzündeten vier Kerzen, die wir zu Lucas Grabmal trugen. Tayeb holte das Brecheisen, das er am Morgen in einer Wandnische neben dem Portal versteckt hatte. Ich hielt mit den ausgestreckten Armen die Marmorplatte, während Tayeb das Eisen ansetzte und sie Fingerbreit um Fingerbreit herausstemmte.
Lucas Grabmal stand nun eine Hand breit offen. Ich hielt den Atem an. Tayeb trat hinter mich und hielt nun die Marmorplatte fest. »Sieh nicht hinein!«, warnte er mich.
Der Gestank des Todes war furchtbar! Ich griff in den finsteren Spalt und tastete nach Senecas Büchlein. Meine Finger berührten den kalten Marmor - und noch etwas anderes. Es war ...
Großer Gott!
Ich presste mir die rechte Hand auf Mund und Nase, schloss die Augen, biss mir auf die Lippen und schob meine Hand weiter in das Grab hinein.
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