Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)
als ich das Buch aufhob und zurück auf seinen Schreibtisch legte.
Ich drehte das Fragment um. Die Tinte war sehr viel blasser als auf der anderen Seite. Mühsam entzifferte ich:
Jesus sprach: Erkenne, was vor deinem Angesicht ist, und das, was für dich verborgen ist, wird sich dir enthüllen. Denn es gibt nichts Verborgenes, das nicht offenbar werden wird.‹
Tayeb legte einen Stapel Bücher auf den Schreibtisch und gab mir ein gefaltetes Pergament. »Lucas Notizen. Der Zettel lag in der Kassette aus Rosenholz.«
Ich entfaltete das Pergament und überflog die lateinischen Anmerkungen meines Vaters. Mir verschlug es den Atem.
O Gott!, dachte ich entsetzt und fasziniert zugleich. Was hat Luca dem Papst erzählt? Dass Jesus ein Mensch war, und kein Gott? Musste er deshalb sterben?
»Kannst du damit etwas anfangen?«, fragte Tayeb.
»Allerdings«, nickte ich. »Setz dich.«
Erwartungsvoll nahm Tayeb neben mir Platz.
»Offenbar hat Luca die vier Fragmente übersetzt, die wir ihm in deinem Silberamulett geschickt hatten. Das Evangelium scheint ausschließlich aus Logien, also aus Sprüchen Jesu, zu bestehen. Es ist also eine Spruchsammlung ohne die dramatische Erzählung der Passionszeit, der Kreuzigung und der Auferstehung.«
»Aber ich dachte, gerade der Sühneopfertod am Kreuz und die Erlösung der Menschheit wäre die Frohe Botschaft, die die Evangelisten verkünden wollten!«, wunderte sich Tayeb.
»Das ist wahr. Doch dieses Evangelium scheint nur Worte Jesu zu enthalten.«
Ich wies auf die nächste Zeile von Lucas Notizen.
»Luca ist aufgefallen, dass Jesus in den Fragmenten nicht Christus genannt wird - Christus ist die griechische Übersetzung des hebräischen Maschiach, der Messias oder der Gesalbte. Kyrios ist die griechische Bezeichnung für Herr, im Sinne von Gott, der Herr. Daher auch seine Bemerkung Tin Mensch - kein Gott!‹ Mich wundert allerdings, dass mein Vater nicht einmal ein Fragezeichen hinter dieses häretische Bekenntnis gesetzt hat.
Wie ich hat Luca dieses Evangelium für sehr alt gehalten - vielleicht sogar für älter als die Texte im Neuen Testament. Die genannten Stellen in den Evangelien des Markus, Lukas und Johannes ...« Ich deutete auf Lucas Anmerkungen. »... beziehen sich offenbar auf ein Logion, das ich in der Genisa in Alexandria gelesen habe ... Warte!«
Ich suchte das entsprechende Fragment und zeigte es Tayeb:
»Sieh mal, hier steht: ›Jesus sprach: Kein Prophet ist angenommen in seinem Dorf. Kein Arzt heilt die ihn kennen.‹ Die angegebenen Stellen in den Evangelien beziehen sich vermutlich auf dieses Logion.
Und die rätselhaften Abkürzungen am Ende von Lucas Notizen sind Hinweise auf die Kirchenschriftsteller, die über ein gnostisches Evangelium geschrieben haben. Sie verweisen auf die Bücher der Kirchenväter, die du von seinem Schreibtisch geholt hast.«
»Lucas Notizen helfen dir also?«, fragte Tayeb erleichtert.
»Ich hoffe es! Ich werde die Bücher der Kirchenväter studieren, um herauszufinden, wer der Verfasser dieses gnostischen Evangeliums ist. Doch ich bezweifle, dass ich eine Deutung dieses gnostischen Sinnspruchs finde.« Ich zeigte Tayeb die Rückseite des zuletzt zitierten Logions: » ›Jesus sprach: Werdet Vorübergehende!‹
Es klingt so einfach, nicht wahr? Das ist es aber nicht! Denn wir wissen nicht, zu wem Jesus sprach - zu seinen Jüngern, zum Volk Israel oder zu inspirierten Gnostikern? Wann und wo - während der Bergpredigt oder in Jerusalem am Kreuz?
Woran soll vorübergegangen werden? An Hass und Gewalt? In der Bergpredigt heißt es: Glückselig die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten, denn ihrer ist das Reich der Himmel. Glückselig die Friedensstifter, denn sie werden Söhne Gottes heißen. An Not und Leid? Glückselig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden.
Soll der Mensch wie ein Mönch auf alles Weltliche verzichten? Denn was würde es dem Menschen nützen, wenn er die ganze Welt gewinnt, sich selbst aber verliert! Denn das Königreich der Himmel ist ja mitten unter uns, ist ja in uns!
Oder soll der Mensch wie ein ewiger Pilger, der wie Jesus alles hinter sich gelassen hat, mutig voranschreiten? Vorübergehen bedeutet doch auch, nicht stehen zu bleiben auf dem einmal beschrittenen Weg? Den Tod am Kreuz zu riskieren?«
Tayeb nickte betroffen. »Dieses Logion erinnert mich an einen Spruch, den ich in den Schriften von Al-Ghazali gelesen habe, einem persischen Theologen und Mystiker: Jesus, Friede sei mit
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