Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)
Schwierigkeiten erwartete, da mir die Prioren den Eintrag in die Gilderolle verweigerten, und dass ich deshalb in den nächsten Tagen den Dogen von Venedig um seine wohlwollende Unterstützung bitten würde. Zudem wolle ich so schnell wie möglich um eine Audienz bei Seiner Heiligkeit nachsuchen.
Vittorino versprach, sofort nach Santa Maria Novella zu eilen. Der päpstliche Sekretär sei gewiss schon in Florenz eingetroffen, um den Einzug am nächsten Tag vorzubereiten.
Als Vittorino gegangen war, zogen Tayeb und ich uns in meine Räume zurück. Während Tayeb die vier Papyrusfragmente des Evangeliums, die ich Luca im Silberamulett geschickt hatte, auf meinen Schreibtisch legte, öffnete ich die silberbeschlagene Tasche und ließ den feinen Sand herausrinnen, der die zerbrechlichen Papyrusfragmente schützte. Sie waren unversehrt. Tayeb half mir, die vierzehn winzigen Bruchstücke, die wir aus der einstürzenden Genisa gerettet hatten, auf dem Tisch auszubreiten.
»Wie wollen wir vorgehen?«
»Zuerst solltest du feststellen, ob alle Fragmente zu demselben Codex gehören«, schlug Tayeb vor. »Du weißt schon: Farbe, Dicke und Faserstruktur des Papyrus, Farbe der Tinte, individuelle Schriftmerkmale des Verfassers wie Neigung und Strichstärke der Buchstaben ...«
Ich nickte.
»... dann solltest du die zerbrochenen Fragmente rekonstruieren, die Zeilenlänge auszählen, die fehlenden Buchstaben und Worte ergänzen und den Text übersetzen«, erklärte er. »Leider kann ich dir bei alldem nicht helfen, da ich das Griechische nicht beherrsche.«
Ich starrte auf die winzigen Fragmente. Die schmalen Streifen aus dem Mark der Papyrusstaude waren zu genormten Bögen übereinandergelegt, gepresst, getrocknet und geglättet worden. In einem Codex wurden immer beide Seiten eines Bogens beschrieben - nicht nur die glatte Vorderseite wie bei einer Schriftrolle, sondern auch die Rückseite, wo die Papyrusfasern oft ›gegen den Strich‹ liefen. Dadurch waren die Buchstaben oft unleserlich, verliefen ineinander, und manchmal blätterte auch die Tinte ab.
»Willst du mit Alexios arbeiten?«
Ich schüttelte den Kopf. »Bei der Entschlüsselung eines gnostischen Evangelientextes kann er mir nicht helfen. Alexios hat sich nie mit dem Glauben der Gnostiker beschäftigt. Die Gnosis wird ja von der Kirche als Häresie verdammt!«
»Und wenn du dich an Leonardo Bruni wendest? Er ist der größte Hellenist Italiens und hat mehrere Bücher von Platon und Aristoteles übersetzt.«
»Leonardo Bruni ist Kanzler der Republik. Ich kann nicht während des Unionskonzils mit ihm an der Übersetzung eines fünften Evangeliums arbeiten, von dessen Existenz außer dem Papst niemand weiß. In wenigen Tagen beginnt eine der bedeutendsten Kirchenversammlungen der Geschichte. Was, glaubst du, wird geschehen, falls bekannt wird, dass ich ein Evangelium gefunden habe? Hier geht es nicht um die Wahrheit des Glaubens, sondern um die machtpolitische Frage der Wiedervereinigung der beiden Kirchen, um den Primat des Papstes, um seine Herrschaft in Rom und in der Welt und um das Überleben des Byzantinischen Reiches als letzter christlicher Bastion im Osten. Bevor ich nicht weiß, was in diesem Evangelium geschrieben steht, und bevor ich nicht mit dem Papst darüber gesprochen habe, werde ich niemandem die Papyri zeigen.«
Tayeb schob den Stuhl zurück und erhob sich. »Da ich dir ja nicht helfen kann, werde ich Lucas Arbeitszimmer durchsuchen. Ich nehme an, dass er sich während der Übersetzung der Fragmente Notizen gemacht hat.«
Ich gab ihm den Schlüssel zu Lucas Rosenholzkassette. »Kannst du mir bitte die Bücher bringen, die auf Lucas Schreibtisch liegen?«
»Mach ich.«
Ich betrachtete die Papyri. Die vier größeren Bruchstücke, die ich Luca in Tayebs Silberamulett geschickt hatte. Und die vierzehn winzigen Fragmente, die ich aus der einstürzenden Genisa gerettet hatte. Nebeneinandergelegt ergaben die beschriebenen Fetzen nicht einmal eine halbe Buchseite. Es war nicht viel, wofür ich mein Leben riskiert hatte. Und trotzdem war der Fund bedeutend: Die Papyri enthielten unbekannte Worte Jesu.
Ich hob das größte Fragment auf und las:
Jesus sprach: Wer sucht, soll weitersuchen, bis er findet. Und wenn er gefunden hat, wird er bestürzt sein. Und wenn er bestürzt ist, wird er staunen. Und er wird herrschen über das All.‹
Dieses Logion hatte Luca sich auf einem Zettel notiert - ich hatte ihn in Eusebius' Kirchengeschichte gefunden,
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