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Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)

Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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gnostischen Traditionen schöpften? Dass sie Logien verwendeten, die sie aus unserem Evangelium kannten?«
    »Ja, das glaube ich. Siehst du dieses Logion? Jesus sprach: Ich bin das Licht, das über allem ist.‹ Es gleicht einem berühmten Spruch im Johannes-Evangelium.
    Und noch ein Beispiel: Jesus sprach: Kein Prophet ist angenommen in seinem Dorf. Kein Arzt heilt die ihn kennen.‹ Dieser Spruch findet sich ebenfalls in den Evangelien. Johannes zitiert nur den ersten Teil: ›Nach zwei Tagen aber zog er von dort weg nach Galiläa, denn Jesus selbst bezeugte, dass ein Prophet im eigenen Vaterland kein Ansehen hat.‹ Und derselbe Spruch bei Markus ...« Ich schlug das sechste Kapitel des Evangeliums auf. »Lies selbst!«
    Mein Freund zog das Buch zu sich heran. »›Dann zog Jesus weiter in seine Heimatstadt, und seine Jünger folgten ihm. Am Sabbat fing er an, in der Synagoge zu lehren, und viele, die ihn hörten, waren sehr erstaunt. Sie fragten: Woher hat er das? Was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben wurde? Was sind das für Wunder, die durch ihn gewirkt werden? Ist er nicht der Zimmermann? Der Sohn von Maria? Der Bruder von Jakob und Joseph und Judas und Simon? Leben seine Schwestern nicht hier unter uns? Und sie nahmen Anstoß an ihm. Doch Jesus sprach zu ihnen: Der einzige Ort, an dem die Menschen einen Propheten nicht achten, ist seine Heimatstadt, unter seinen eigenen Verwandten und in seinem eigenen Haus. Deshalb konnte er dort weiter keine Wunder tun, als einigen wenigen Kranken die Hände aufzulegen und sie zu heilen. Und er war verwundert über ihren Mangel an Vertrauens« Tayeb sah auf. »Ich verstehe, was du meinst. Der Evangelist hat aus einem Spruch Jesu eine lange Szene komponiert.«
    »So ist es!«, bestätigte ich. »Und Lukas geht sogar noch weiter! Schlag auf, Tayeb: Evangelium des Lukas, Kapitel 4.«
    Mein Freund blätterte durch das Neue Testament und fand die angegebene Stelle. »Dieselbe Szene vom Unglauben der Nazarener! Jesus predigt in der Synagoge und erregt den Zorn der Gläubigen. Sie treiben ihn mit Gewalt vor die Stadt, um ihn dort zu töten. Sehr dramatisch inszeniert!«
    »Luca war derselben Meinung, als er sich fragte, ob die Szenen in Nazaret der Fantasie der Evangelisten entstammen. Doch ich gehe noch einen Schritt weiter: Wenn dieser Glaubensstreit in Nazaret inszeniert wurde, um jenes Logion vom verachteten Propheten in den Evangelien zu verwenden, sind dann Jesu Heilungen, mit denen er sich als Messias legitimierte, nur dramatische Inszenierungen, um den zweiten Teil dieses Logions zu beweisen? Immerhin verspricht der Prophet Jesaja, dass Blinde sehen, Taube hören und Lahme springen werden.
    Und hat er nicht noch mehr Prophezeiungen erfüllt, die vorhersagten, dass er wie Moses ein Prophet sein würde - ein Sohn Gottes? Dass er auf einem Esel nach Jerusalem einreiten musste? Dass er von einem Freund für dreißig Silbermünzen verraten wurde? Dass er von seinen Gefolgsleuten verlassen wurde, um am Ende gekreuzigt zu werden? Ist denn die Passionsgeschichte wie sein Handeln als Messias auch nur erfunden? «
    Fassungslos starrte Tayeb mich an.
    »Ich glaube, dass unsere Logien älter sind als die Evangelien«, fuhr ich fort. »Die Sprüche sind die Urform der Szenen und Gleichnisse in den Evangelien. Entweder haben Markus und Lukas dieselbe Quelle benutzt wie der Verfasser der Logien, oder sie haben bei ihm abgeschrieben. Wenn wir annehmen, dass die Evangelisten die Sprüche einem älteren, gnostischen Evangelium entnommen haben, wird die Datierung unserer Fragmente zum Stein des Anstoßes.«
    »Wieso?«, fragte Tayeb stirnrunzelnd.
    Ich sprang auf und lief unruhig im Arbeitszimmer auf und ab. »Erster Grund: Dann wäre die Passion äußerst fantasievoll aus alttestamentlichen Prophezeiungen zusammengeschrieben, denn unser Evangelium überliefert keinen Bericht von dem Einzug nach Jerusalem, der Tempelreinigung, der Gefangennahme und der Kreuzigung. Es nennt Jesus nicht Christus, den Gesalbten, und nicht Kyrios, den Herrn. Jesus ist ein Mensch - kein Gott.
    In unserem gnostischen Evangelium gibt es keinen Sühneopfertod. Keine Auferstehung von den Toten. Keine Himmelfahrt. Keine Wiederkehr des Messias. Keine Erlösung der Menschen - sondern Selbsterlösung durch Selbsterkenntnis: durch Gnosis. Nicht irgendwann am Ende der Tage! Sondern hier und jetzt! Und das wiederum heißt: Die Priesterherrschaft der Kirche und die Sakramente sind nutzlos.«
    Ich blieb am Fenster

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