Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)
stehen. »Zweiter Grund, warum die frühe Datierung so gefährlich ist: Die Gnosis wäre ein Teil des frühen Christentums gewesen.«
Während ich aus dem Fenster sah, dachte ich nach. Was durfte ich dem Papst offenbaren? Dass Jesus kein Gott war? Dass er die Kirche nicht gegründet hatte? Was hatte Luca in Ferrara mit dem Pontifex besprochen? Welche Logien hatte Eugenius gelesen? Und welche Schlussfolgerungen hatte er selbst gezogen? Und wieder stellte sich mir eine erschreckende Frage: Hatte Eugenius den Mord an Luca befohlen?
Nein, das wollte ich nicht glauben!
Der Mörder wusste weder von dem Evangelium noch von Lucas Schriftwechsel mit Lorenzo Valla wegen der Konstantinischen Schenkung. Der Papst hatte den Mord nicht befohlen. Das hoffte ich jedenfalls! Denn sonst würde ich die Audienz heute Abend nicht überleben ...
Gedankenverloren starrte ich durch die mit Blei eingefassten Scheiben des Fensters und betrachtete die funkelnden Eisblumen - zarte Blüten aus blassblauen und rosenfarbenen Lichtreflexen, fächerförmige Blätter aus Eiskristallen, lange gewundene Stängel wie zerzauste Federn, die im leichten Wind zu schwanken schienen. Ein zauberhafter Anblick!
Dann sah ich ihn: den weißen Mönch.
Mein Herz klopfte bis zum Hals, und meine Hände zitterten. Dort unten in der Gasse hinter dem Palazzo stand ein Dominikaner und sah zu mir herauf! Die Kapuze hatte er so tief ins Gesicht gezogen, dass ich ihn nicht erkennen konnte.
Ich wich zurück in den Schatten des Raumes.
Der Mönch stand an der Ecke zur Via dello Studio - die Gasse führte zum Studio Fiorentino, der Universität von Florenz.
Erschrocken starrte ich ihn an: Wer, zum Teufel, war er?
Ein Frater von der römischen Inquisition?
Oder Lucas Mörder?
Ich verlor keine Zeit. Wenig später ritt ich mit Alexios und Tito die mit Girlanden und Triumphbögen geschmückte Via Larga entlang zum Kloster San Marco. Die jungen Florentiner, die ganz in Gold gekleidet und geschminkt lebende Allegorien darstellen sollten, kletterten bereits auf die Siegesbögen.
Mit meiner Eskorte kämpfte ich mich durch die Menge der herbeiströmenden Schaulustigen, die sich die besten Plätze für den großartigen Einzug des Papstes sichern wollten. Auf der Piazza San Marco, wo Fra Angelico seinen Altar errichtet hatte, drängten sich besonders viele Menschen: Hier würde der Pontifex innehalten und die Menge segnen.
Es war die Zeit der Non. Die Mönche hielten noch ihr Chorgebet, daher musste ich am Tor des Klosters eine Weile warten, bis ich eingelassen wurde.
Vom Vorraum aus beobachtete ich, wie die vierzig Mönche von der Kirche, wo sie gebetet hatten, in den Kreuzgang eilten, um sich auf den Empfang des Papstes vorzubereiten.
An der Pforte fragte ich nach Fra Antonino, meinem Beichtvater. Der Prior sei nicht im Kloster, sondern wegen der in Kürze bevorstehenden Ankunft Seiner Heiligkeit noch bei Cosimo im Palazzo della Signoria. Ich bat darum, auf den Prior warten zu dürfen, da ich etwas Wichtiges mit ihm zu besprechen habe, und der Frater ließ mich eintreten.
Ich durchquerte den Kreuzgang und stieg die Treppen empor in den ersten Stock zu den weiß verputzten Zellen der Mönche unter dem hohen, offenen Dachstuhl. In den nächsten Jahren sollte Fra Angelico in Cosimos Auftrag die Zellen der Fratres mit Bildern des Gekreuzigten ausmalen. Ich wandte mich nach rechts - der Bibliothekssaal war nur wenige Schritte entfernt.
Gerade wollte ich die Klinke niederdrücken, um einzutreten, als Serafino mir entgegenstürmte und mich beinahe umrannte.
»Alessandra!«, rief er erschrocken. Mit schuldbewusstem Blick presste er seinen Arm gegen etwas, das er unter dem schwarzen Skapulier trug. Offenbar ein Buch. »Du bist zurück?«
»Seit gestern.«
»Ich habe gehört, was mit Luca ...« Er verstummte. »Es tut mir so leid, Alessandra.«
»Er war wie ein Vater für dich.«
Serafino nickte traurig. »Luca hat aus mir gemacht, was ich heute bin. Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich die Gelübde abgelegt habe. Ich hatte so sehr gehofft, er und der Papst würden sich aussöhnen ... und nun ...«
»Bitte verzeih, dass ich vor Weihnachten nicht zu deiner Priesterweihe kommen konnte. Meinen herzlichen Glückwunsch, Pater Serafino.«
Serafino umarmte mich mit dem freien Arm und küsste mich auf die Wange. Er wusste, wie weh er mir getan hatte, als er sich entschloss, Priester im Tempel der Selbstopferung zu werden. Beinahe wäre ihm das schwere Buch entglitten, das er
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