Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)
verprügelte mich, als ich mich weigerte, ihm zu beweisen, dass ich nicht beschnitten war. In jener Nacht bin ich aus dem Palast geflohen. Ich wollte dorthin zurückkehren, woher ich gekommen war. Wo ich vier Jahre meines Lebens glücklich gewesen war. Wo ich einen Vater und einen Bruder hatte, die mich liebten. Doch als ich schließlich vor Avirams Haus stand, fand ich es verlassen. Mein Vater und mein Bruder waren bereits Monate zuvor nach Jerusalem ausgewandert.«
»Ohne ein Wort des Abschieds?«
Sie hatte sich erhoben und einen Becher mit Wasser gefüllt, den sie mir reichte. Ich trank einen Schluck.
»Von einem Nachbarn erfuhr ich, wie oft Aviram und Natanael versucht hatten, mich zu besuchen. Jedes Mal waren sie von den Palastwachen abgewiesen worden. Ihre Briefe waren auf Befehl des Kaisers verbrannt worden. Ich hatte sie nie erhalten. Mein Vater und mein Bruder waren für mich auf immer verloren. Das war eine furchtbare Erkenntnis: Ich war ganz allein.«
»Dieses Gefühl kenne ich!« Nachdem sie mir den leeren Becher aus der Hand genommen hatte, setzte sie sich wieder neben mich auf den Bettrand. »Was habt Ihr dann getan?«
»Ich habe mich drei Tage lang in der Stadt herumgetrieben und vor den Bewaffneten versteckt, die Manuel ausgeschickt hatte, um mich zu suchen. Von den Palastwachen mit Gewalt zurückgeschleppt werden - besiegt und gedemütigt? Niemals! Wenn ich schon in den Palast zurückkehrte, dann nur aus freiem Willen und mit erhobenem Haupt.«
Sie lachte. »Wie hat er auf Eure Rückkehr reagiert?«
»Er hat ziemlich getobt, um nicht zu zeigen, wie stolz er eigentlich auf mich war. Als er sich beruhigt hatte, fragte er, welche Bestrafung ich für angemessen hielte.«
»Und?«
»Ich sagte, meine Rückkehr in den Palast und die erneute Unterwerfung unter das Hofzeremoniell seien nach drei Tagen in der Freiheit ja wohl eine ausreichend harte Strafe. Da hat er schallend gelacht und mir Recht gegeben.«
»Euer Mangel an Demut hat ihm imponiert.«
»Ja, ich glaube, dass er mich deshalb am Ende gehen ließ. Er kannte meine Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit.«
Sie ergriff meine Hand und streichelte sie zart.
»Im Januar 1421 war Ioannis zum Mitkaiser gekrönt worden. Wenig später erlitt Manuel einen schweren Schlaganfall, und mein Bruder übernahm als Basileus die Regierungsgeschäfte, während der türkische Sultan monatelang Byzanz belagerte. Im November 1422 reisten Ioannis und ich nach Italien, um den Dogen von Venedig, den Herzog von Mailand und den deutschen König, den späteren Kaiser Sigismund, zu einem Feldzug gegen die Türken aufzurufen. Ohne Erfolg!
Damals war Fra Luca d'Ascoli mein großes Vorbild. Er hat mir gezeigt, wie man unbeirrbar seinen eigenen Weg geht. Sehr gern wäre ich damals nach Florenz gereist, um ihn kennenzulernen!« Ich lächelte entschuldigend. »Im Grunde ist also Euer Vater daran schuld, dass ich Mönch geworden bin.«
Sie nickte nachdenklich. »Wie hat Manuel reagiert, als Ihr ihm sagtet, dass Ihr Euch ins Kloster zurückziehen wolltet?«
»Er war tief enttäuscht. Nach seinem schweren Schlaganfall konnte er das Bett nicht mehr verlassen. Er hatte gehofft, ich könnte Ioannis bei der Regierung des Reiches unterstützen. Doch dann besann er sich. Manuel ließ mir meinen Willen, weil er hoffte, dass ich eines Tages Patriarch sein würde.«
»Seine Allheiligkeit, Patriarch Joseph, ist sehr krank. Der Papst und die Kardinäle, allen voran Giuliano Cesarini, gehen davon aus, dass Ihr sein Nachfolger werdet.«
»Ich werde dieses Amt nicht antreten. Nach der Unterzeichnung des Unionsdekrets muss ich für einige Monate nach Athen reisen. Dann werde ich mich wie Andronikos für den Rest meines Lebens als Mönch in mein Kloster zurückziehen und dort sterben.«
Sie nickte traurig. »Die schweren Kopfverletzungen sind schuld an Euren epileptischen Anfällen, nicht wahr?« Sanft berührte sie die Narbe in meinem Haar.
»Natanael glaubt, dass ich damals nicht nur einen Schädelbruch, sondern auch eine schwere Hirnblutung erlitten habe, die nun diese Stürze hervorruft.«
»Gibt es eine Möglichkeit der Heilung und der vollständigen Genesung?«
»Nur wenn Natanael meinen Schädel öffnet und das geronnene Blut herausholt. Nur wenn ich diese Operation überlebe und danach noch geistig zurechnungsfähig bin.«
Alessandra barg ihr Gesicht in ihren Händen und schwieg. Schließlich richtete sie sich auf und sah mir in die Augen. »Ihr müsst erschöpft sein,
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