Der vergessene Strand
Ellbogen und führte ihren Großvater zum Sofa. Dort sackte er völlig entkräftet zusammen. Das Bild hielt er mit beiden Händen umklammert, und es dauerte ein paar Minuten, bis er wieder zu Atem kam. Dann schaute er auf und erwiderte ihren Blick. Amelie wartete. Sein Zögern war greifbar, und sie vermutete, dass das, was er ihr jetzt sagen wollte, wichtig war. Vergessen war ihre Ururgroßmutter, vergessen Frannys Tagebücher. Das hier, was auch immer es war, war wichtiger.
«Das hier», er tippte mit zittriger Hand auf den rothaarigen Jungen, «ist dein Bruder. Patrick.»
Dein Bruder.
Manche Dinge konnte man nicht begreifen, sosehr man sich auch bemühte. Manches war zu groß, um es mit dem eigenen Wissen in Einklang bringen zu können.
So fühlte sich Amelie in diesem Augenblick. Sie sank neben Jonathan aufs Sofa. Sagte lange nichts, während er mit den Fingern immer wieder den Bilderrahmen entlangfuhr. Die Gesichter der Kinder antippte, als könnte er sie so spüren.
Schließlich setzte sie sich auf. «Mein Bruder», wiederholte sie.
«Dein Bruder. Ja.»
Er schaute sie nicht an.
«Warum … Du hast ihn mit keinem Wort erwähnt. Ich hab einen Bruder! Warum hast du mir das nie gesagt?»
Er zuckte mit den Schultern.
«Jon, bitte! Ich hab einen Bruder, und du erzählst mir nichts davon?»
«Du hast auch nicht nach ihm gefragt», erwiderte Jonathan. Schwerfällig erhob er sich. In den letzten fünf Minuten schien er um zehn Jahre gealtert zu sein. Amelie hielt ihn am Ärmel fest.
«Mehr hast du nicht zu sagen? Wo ist er jetzt? Warum hast du mich ihm nicht vorgestellt?»
«Amy!» Er machte sich mit einem Ruck von ihr los. Sein Blick brannte sich ihr ein. «Was glaubst du wohl, wieso ich dir nichts von ihm erzählt habe? Wieso ich froh bin, dass du nichts mehr von ihm weißt? Meinst du nicht, es könnte dafür einen guten Grund geben?»
«Ich wüsste keinen!», erwiderte sie heftig. «Ich hab einen Bruder, und du verschweigst ihn mir! Ich hab ohnehin kaum Familie, von meinem Vater magst du ja auch nicht erzählen. Warum, Jon? Wieso hältst du mich von den beiden fern?»
«Weil du ihnen jetzt auch nicht näherkommst, wenn du weißt, dass es sie gibt. Darum.»
In Amelie war plötzlich so viel Wut, dass sie nicht wusste, wohin damit.
«Deine Selbstgerechtigkeit kotzt mich an!», schrie sie. Sie wollte auf irgendwas eindreschen, bis ihre Fingerknöchel anschwollen, sie wollte diesen Schmerz spüren, weil dann vielleicht das Gefühl schwand, schon wieder um ihre Vergangenheit betrogen worden zu sein.
Warum nur glaubten sie alle, Amelie könne die Wahrheit nicht ertragen? War das, was passiert war, denn wirklich so schrecklich?
«Amy. Amy!»
Sie stürmte aus dem Haus. Blind vor Tränen stolperte sie die Main Street entlang und hielt erst inne, als das Haus außer Reichweite war. Sofort gewann wieder die Vernunft die Oberhand, und sie schämte sich, weil sie ihren Großvater so wüst beschimpft hatte. Nicht gerade ein angemessenes Verhalten für eine Frau von über dreißig Jahren. Aber ihre Geduld war am Ende. Sie wusste, dass in ihrer Vergangenheit etwas Schreckliches passiert war. Etwas, das ihre Erinnerungen ausgelöscht hatte, das ihre Mutter und ihren Vater unwiderruflich entzweit hatte. Etwas, das ihr niemand erzählen wollte. Nicht mal die Klatschweiber um Ruthie Fenwick mochten damit herausrücken. Ein dunkelgrauer Schleier lag über der Zeit vor ihrem fünften Geburtstag.
Und da gab es einen Bruder.
Antonia hatte nie gewusst, woher sie kam. Franny hatte sie nicht wie ihr eigenes Kind aufgezogen, sondern wie das einer anderen, und das hatte sie immer gespürt.
Inzwischen war sie selbst Mitte zwanzig und Mutter, zum vierten Mal schwanger, und jenes still nagende Gefühl, nicht ganz willkommen gewesen zu sein im Leben der Frau, die sie immer Mama hatte nennen wollen, war einer tiefen Gewissheit gewichen. Aus dem braven, ruhigen Mädchen von einst war eine fahrige, unbeständige Mutter geworden. Ständig plagten sie Zweifel, ob sie alles richtig machte. Oft war sie allein, weil ihr Mann zwar kein Kapitän zur See mehr war, aber im fernen London eine Arbeit angenommen hatte, die ihn wochenlang dort festhielt.
Antonia hatte gelernt, mit alldem umzugehen. Sie hatte auch gelernt, mit ihrer eigenen Schwäche klarzukommen, mit jenen Nächten, die sie schlaflos verbrachte, ebenso wie mit den Tagen, an denen sie ins Leere starrte, wenn die drei Ältesten um sie herumtobten.
Es war der Herbst
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