Der vergessene Strand
viele.»
Das Apartment hatte zwei kleine Zimmer, die winzige Küche und ein fensterloses Bad, das Amelie schon kannte, weil sie im Moment ständig aufs Klo musste. Auf dem Rückweg in die Küche hatte sie durch die angelehnten Türen gespäht: Im Wohnzimmer standen eine Eckcouch, ein kleiner Fernsehtisch, ein halbvolles Bücherregal. Und im Schlafzimmer: ein Kleiderschrank und ein zerwühltes Bett, weil sie ihn gerade erst geweckt hatte. Alles war nüchtern, beinahe erschreckend leer. Er schien nicht viel zu besitzen.
«Geht es Susan gut? Oder muss ich mir Sorgen machen?»
«Ich glaub, es geht ihr ganz gut.»
«Erstaunlich. Ich hätte gedacht, sie würde dir frühestens auf dem Sterbebett verraten, wo du mich findest.»
«Von ihr weiß ich das auch gar nicht.»
«Ah», machte David. «Mein Vater?»
Sie nickte stumm.
«Tja, das überrascht mich jetzt doch. Er muss dich sehr mögen. Oder das genaue Gegenteil.»
Amelie überging seine kryptische Bemerkung. «Ich hab viele Fragen.» Dass ihre Verwandtschaft bezüglich der Vergangenheit eher ein verschwiegener Club war, in dem sich die einzelnen Mitglieder offenbar nicht leiden konnten, hatte sie allmählich begriffen.
David runzelte die Stirn. «Ich weiß nicht, ob ich alle Antworten habe. Wir können’s aber zumindest versuchen.»
Er sah gar nicht so aus, wie sie sich ihren Vater vorgestellt hatte. David war eher schmächtig und dürr, mit einem im Laufe der Jahre angefutterten kleinen Bäuchlein. Die rötlich blonden Haare waren schütter und etwas zu lang, der Bart von erstem Grau durchsetzt und ein wenig zerzaust. Nicht direkt vernachlässigt, aber schon so, als vergesse er manchmal, dass er der einzige Mensch auf der Welt war, um den er sich zu kümmern hatte.
Aber vielleicht stimmte das ja gar nicht? Sie hatte ja keine Ahnung, wie er lebte.
Nur eine Vorstellung davon, dass er wohl sehr einsam war. Jedenfalls machte seine Wohnung auf sie den Eindruck eines einsamen Menschen.
«Ich zieh mir mal was an.» Er schlurfte aus der Küche. Sie hörte ihn im Badezimmer rumoren. Die Wände waren dünn. Zehn Minuten später stand er wieder in der Küche, mit Jeans und Hemd, die Haare gekämmt. Jetzt sah er sogar ganz gut aus, fand sie.
Zum Kaffee bot er ihr Frühstück an, aber Amelie lehnte ab.
«Ehrlich gesagt, habe ich schon vor vielen Jahren mit dir gerechnet», begann er. «Ich dachte, wenn du als Teenager anfängst, Fragen zu stellen …»
«Ich habe Fragen gestellt. Aber bis vor wenigen Wochen wusste ich nichts von meiner Kindheit in Pembroke.»
«Hm.»
«Und dass ich jetzt davon weiß, geschah auch eher zufällig.» Sie erzählte ihm das Wichtigste. Von ihrer Arbeit an dem Buch, von der blauen Tür. Da musste ihr Vater lächeln.
«Die blaue Tür hatte es dir schon immer angetan. Wenn wir zu meinem Vater fuhren, hast du stundenlang vorher von nichts anderem geredet als von der Bank neben der blauen Tür. Da hast du gern gesessen und …»
Er verstummte, als wüsste er nicht, ob er so viel sagen durfte.
«Und?», fragte Amelie vorsichtig.
«Ach, nichts. Ich weiß nicht …» Er fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. Plötzlich sah er sehr müde aus. «Wie viel hat mein Vater dir erzählt? Wie viel weißt du?»
«Bis gestern wusste ich nichts. Dann hat er mich zum Friedhof mitgenommen. Zu Patricks Grab», fügte sie leise hinzu. Ihr schnürte sich die Kehle zu. So viele Erinnerungen, einfach versunken in einer Vergangenheit, die sie nicht mehr greifen konnte.
«Du wusstest nichts von Patrick?» Er starrte sie an, als wäre sie ein seltenes Tier.
«Ich … da war keine Erinnerung an ihn. Nichts. Meine frühesten Erinnerungen setzen erst in Berlin ein, kurz nach dem Umzug.»
Ihr Vater nickte. «Du warst traumatisiert. Deine Mutter wusste sich wahrscheinlich nicht anders zu helfen. Immer wieder hast du nach Patrick gefragt, und nach mir. Wir hatten damals schon länger getrennt gelebt.»
«Damals? Vor dem Unfall, meinst du?»
Das war ihr neu, und sie merkte an Davids Reaktion, dass er gedacht hatte, sie wüsste über alles Bescheid.
«Ich dachte, ihr hättet euch erst danach getrennt», sagte sie. «Dein Vater meinte, ihr wärt so glücklich gewesen …»
«Das waren wir auch», erwiderte David scharf. «Bis ich dahinterkam, wie sie mich hintergangen hat. Natürlich hat sie dir davon nie erzählt; sie kommt ja auch nicht besonders gut dabei weg. Und ich werde auch nichts dazu sagen. Das ist zu lange her. Gibt keinen Grund, alte Geschichten
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