Der vergessene Strand
schüttelte müde den Kopf.
«Ich hätte sie nie heiraten dürfen. Das war unser aller Unglück.»
Sie schwiegen eine Weile. Schließlich nahm Amelie all ihren Mut zusammen.
«Bitte», sagte sie leise. «Kannst du mir nicht alles erzählen, was damals passiert ist?»
Er starrte lange vor sich hin. Schließlich zog er einen Küchenstuhl heran und ließ sich schwerfällig daraufsinken. Die Augen, die vorhin noch glasig gewirkt hatten, waren jetzt klar und von einem strahlenden Blau. «Es ging an dem Tag zu Ende, als ich erfuhr, mit wem sie mich all die Jahre hintergangen hat», begann er. «Und eigentlich war es da schon seit Jahren vorbei.»
David machte Susan einen Heiratsantrag, als sie ihm von ihrer Schwangerschaft erzählte. Er hörte nicht hin, er sah nicht hin, er wollte sie nur für sich. Es kümmerte ihn nicht, dass sie bedrückt vor ihm saß und mit stockender Stimme erzählte, sie sei überfällig und habe einen Test gemacht, und ja, sie atmete tief durch, sie würde ein Kind bekommen.
Allein in diesem Satz lag schon die ganze Wahrheit, aber er hatte sie ja nicht hören wollen.
«Ich bekomme ein Kind.»
Nicht: Wir bekommen ein Kind. Nicht: Stell dir vor, jetzt bekommen wir ein Kind, was machen wir denn bloß?
Nein, sie war mit diesem Kind ganz allein auf der Welt, wusste vermutlich schon damals, dass nicht David der Vater sein konnte. Wenn sie die Nächte unter der Bettdecke in seinem Jugendzimmer verbrachten, das er immer während der Semesterferien bewohnte, beschränkten sie sich meistens darauf, sich aneinanderzukuscheln und stundenlang zu flüstern, bis Susan einschlief und er noch stundenlang wachlag und staunend das Mädchen in seinen Armen betrachtete. Natürlich hatten sie Sex, sie hatten Lust aufeinander wie jedes frischverliebte Paar. Aber diese kurze Phase ging schnell vorbei. Sie forderte nicht, und er war froh, dass sie überhaupt bei ihm war.
Sie war aus einer anderen Welt, spielte in einer anderen Liga. Mädchen wie Susan interessierten sich nicht für Jungs wie David. Mädchen wie Susan bekamen den Schulsprecher ab, den gutaussehenden Jungen aus reichem Haus, der ihr was bieten konnte. Er war nur ein armer Kerl aus Pembroke, der dank eines Stipendiums in Cambridge promovieren durfte. Es würde noch lange dauern, bis er ihr ein richtig gutes Leben würde bieten können, aber im Augenblick war er zu glücklich, um sich zu viele Sorgen zu machen, und setzte auf die Hilfe von Vater und Onkel. Beide konnten bestimmt etwas für sie tun.
Ihr verwirrtes «Ja, aber …», als er sie fragte, ob sie seine Frau werden wolle, genügte ihm. Jeden Zweifel wischte er beiseite, es sollte keine bangen Momente für sie geben, in denen sie sich fragen müsste, was nun aus ihr wurde. Sie hatte doch ihn! Und wenn er schon so verantwortungslos gewesen war, sie zu schwängern, wollte er mit Freuden die Verantwortung für sie und ihr Kind tragen.
Später, nachdem sie sein Leben in Scherben geschlagen hatte, dachte er oft an jenen Morgen am Strand zurück. Sie war schwimmen gewesen, obwohl der Septembermorgen schon ungewöhnlich kühl war, und schnatternd kam sie zu ihm zurückgelaufen. Er saß auf einer Decke und las, stand aber sofort auf und hüllte ihren kalten Körper in das große Handtuch. Ihre Lippen waren ganz blaugefroren, und sie klapperte mit den Zähnen. Hatte sie versucht, sich durch die Kälte das Kind auszutreiben? Und als sie feststellte, dass es sich mit einem erstaunlichen Lebenswillen in ihren warmen Körper krallte, hatte sie es ihm daraufhin erst erzählt, weil sie keinen anderen Ausweg wusste? Oft hatte sie von ihrem Vater erzählt, der so streng war. Sicher hätte er ihr, wenn sie mit einem unehelichen Kind von ihrer Europareise heimkehrte, irgendwas angetan – so weit glaubte David sie zu verstehen. Nach außen war Susan sehr selbstbewusst, sie hatte ihn erobert, nicht umgekehrt. Darunter aber schlummerte ein ängstliches Mädchen, das seines Schutzes bedurfte.
Es gab für ihn also nur einen Weg, die Sache zu einem guten Ende zu bringen, und ihre Bedenken hatten da keinen Platz. Sie machte ihn zum glücklichsten Menschen der Welt! In seinem jugendlichen Überschwang glaubte er, sein Leben habe nun schon in jungen Jahren die Bahn gefunden, auf der es für die nächsten Jahrzehnte weiter verlaufen werde, ohne große Katastrophen oder Kummer.
Zur Hochzeit erschienen Susans Eltern in Pembroke, und er lernte Eugen Riemann als einen sehr klugen, sehr reflektierten Mann
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