Der vergessene Strand
vielleicht wusste man, wo sie die Leute fand, deren Namen sie schon vor Wochen notiert hatte. Pembroke war klein. Wahrscheinlich kannte man sich oder wusste zumindest, wo Amelie nachfragen konnte.
Sie setzte sich an den Schreibtisch und ging ihre Notizen durch. Es war schwer, nach den letzten beiden Tagen den Faden wieder aufzunehmen. Auf einmal sprangen ihr die Parallelen zwischen ihr und Beatrix Lambton schmerzhaft ins Auge.
Beatrix’ Mann hatte sie zeit ihres Lebens immer wieder betrogen. Er hatte zahlreiche Bastarde, die er ohne Skrupel auch im eigenen Haushalt aufziehen ließ, wenn es ihm passte.
Amelie lehnte sich zurück. Kurz stellte sie sich vor, wie es wäre, wenn diese junge Frau, die Michael jetzt das langersehnte Kind schenkte, bei ihnen einzog. Wenn es in Amelies Verantwortung läge, dieses Kind gemeinsam mit den eigenen aufzuziehen, wie Beatrix Lambton es in mindestens zwei Fällen mit den Bastarden getan hatte, die ihr Mann ins Haus holte.
Beatrix Lambton hatte sich nie beklagt. Sie behauptete später, sie habe die Bastarde geliebt wie ihre eigenen Kinder, und auch nach dem frühen Tod ihres Mannes sorgte sie für sie. Sie verschaffte ihnen ein Auskommen. Das Mädchen verheiratete sie gut, und dem Jungen ebnete sie den Weg für eine Karriere beim Militär. Beide hatten, aus der Ferne betrachtet, eine bessere Zukunft vor sich als Beatrix’ leibliche Kinder. Ihr ältester Sohn starb kaum achtzehnjährig an der Schwindsucht, die ältere Tochter war mit ihrem Ehemann so unglücklich, dass sie ins Wasser ging. Die andere Tochter lehnte sich zeit ihres Lebens gegen die übermächtige Mutter auf und wurde eine passable Lyrikerin, bis der Erste Weltkrieg ihr alles nahm – auch den geliebten, jüngeren Bruder, der in den Schützengräben von Ypern bei einem Giftgasangriff der Deutschen verendete.
Was machten diese Todesfälle aus einer Mutter? Sie hatte all ihre Kinder überlebt, ehe sie 1959 mit knapp neunzig Jahren starb. Über ihre letzten Lebensjahrzehnte wusste man kaum etwas; lediglich die Jahre bis etwa 1930 waren belegt. Danach verschwand Beatrix Lambton bis zu ihrem Tod aus allen Quellen – als hätte sie aufgehört zu existieren. Dabei war sie davor sehr aktiv gewesen. War damals irgendwas vorgefallen? Oder hatte sie in den letzten Jahren einfach die Lust daran verloren, sich mit anderen Menschen abzugeben?
Bis halb acht schrieb sie eher lustlos an einem der ersten Kapitel, die sich mit Beatrix’ Kindheit und Jugend bis zu ihrer ersten Begegnung mit Henry beschäftigten. Beatrix und ihre jüngere Schwester Anne hatten einander im Laufe ihres Lebens viele Briefe geschrieben. Briefe, die bis auf wenige Ausnahmen verschollen waren, denn wer hob schon die Briefe einer Frau der Oberschicht des späten 19 . Jahrhunderts auf, in denen es nur um weibliche Themen ging?
Sie hatte ein paar Namen recherchiert. Leute, die ihr bei der Suche nach weiteren Spuren helfen konnten. Ihre Lektorin hatte gesagt, wenn sie etwas Neues fand, wäre das der richtige «Aufhänger» für die Biographie. Biographen fanden immer irgendwelche Schätze auf Dachböden, in Dielenritzen oder in den hintersten Ecken irgendwelcher Bibliotheken, und das, obwohl man meinen sollte, dass irgendwann einmal alles gefunden sein müsste, was es zu finden gab.
Um halb acht seufzte sie zufrieden und speicherte das Dokument. Sie ging nach unten und folgte dem dezenten Klappern von Geschirr in einen kleinen Frühstücksraum. Eine ältere Frau in schwarzem Pullover und Rock deckte gerade einen einzelnen Tisch ein.
«Guten Morgen! Sie müssen Mrs. Franck sein. Ich bin Peggy. Peggy Rowles. Die Frau von dem Griesgram, bei dem Sie gestern eingecheckt haben.»
Peggy Rowles reichte ihr die Hand. Ihr Händedruck war fest, die Finger angenehm kühl.
«Was möchten Sie frühstücken? Hab gehört, Sie kommen aus Deutschland. Was führt Sie bis ins tiefste Wales? Urlaub?»
«Äh, ich hätte gern Kaffee.» Die andere Frage überging Amelie.
«Kaffee kommt sofort.» Mrs. Rowles verschwand geschäftig hinter einer Schwingtür.
Der einsame Tisch, an dem für Amelie gedeckt war, stand direkt vor dem Fenster. Sie setzte sich zögernd und wartete.
«Und sonst, Liebchen? Ich kann Ihnen englisches Frühstück machen oder kontinentales. Ganz, wie Sie wollen.»
«Ich hätte gern Porridge», sagte Amelie. «Das genügt mir.»
Sie legte ihr Smartphone neben den Teller. Weil sie noch mit ihrer Lektorin sprechen musste, redete sie sich ein. Aber
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