Der vergessene Strand
insgeheim hoffte sie, Michael würde noch mal versuchen, sie zu erreichen.
«Porridge ist eine gute Wahl. Dauert nur einen Moment.» Mrs. Rowles schenkte ihr Kaffee ein und verschwand wieder hinter der Tür zur Küche.
Der Kaffee war heiß, würzig und stark. Langsam erwachten ihre Lebensgeister, und als Mrs. Rowles mit einer Schüssel Porridge und einer Schale Obstsalat zurückkam, hatte sie sogar etwas Hunger.
«Wissen Sie, wo die Bibliothek ist?»
«Natürlich weiß ich das, Kindchen.» Ohne zu fragen, ob es in Ordnung wäre, setzte sich Mrs. Rowles zu Amelie an den Tisch. «Essen Sie’s, bevor das Porridge kalt wird. Kalt schmeckt es nicht. Die Bibliothek finden Sie in der Commons Road. Ist im selben Gebäude wie das Touristenzentrum. Da haben sie viele Broschüren, in denen steht, was man hier in der Gegend so machen kann. Den Wanderweg am Strand entlanglaufen, zum Beispiel. Ist bei den Touristen sehr beliebt. Oder die Festung besichtigen. Gibt eine Menge altes Zeug von den Tudors da.»
Amelie löffelte das Porridge. Schließlich erklärte sie: «Ich bin nicht im Urlaub.»
«Sondern?»
Sie war wirklich neugierig, diese Mrs. Rowles. Aber Amelie konnte ihr nicht böse sein; die Fragen kamen so ungezwungen und nett.
«Ich schreibe ein Buch und brauche ein paar Informationen.»
«Aha», sagte Mrs. Rowles. «Mit Büchern hab ich’s nicht so.» Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und stand auf. «Wenn Sie noch was brauchen, fragen Sie einfach. Von uns ist immer jemand hier.»
Sie verschwand so schnell, dass Amelie sich fragte, ob sie etwas falsch gemacht hatte. Aber ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, piepte ihr Smartphone.
Eine Nachricht von Diana.
Was ist denn bei euch los? Michael hat mich gefragt, ob du bei mir bist.
Amelie zögerte. Dann tippte sie:
Ist kompliziert. Ich schreib dir.
Es ist immer kompliziert. ;-)
Amelie lachte. Diana schaffte es immer wieder, sie aus der negativen Stimmung herauszureißen – einfach, indem sie solche Sachen schrieb.
Diesmal ist es komplizierter.
Dachte ich mir. Wo bist du?
Pembroke
, tippte Amelie.
Ah. Bei den Damen Lambton.
Sie legte das Smartphone weg und aß auf.
Diana verstand sie.
Die Freundin fehlte ihr. Das Wenige, was ihnen im Moment blieb – Kurznachrichten, Mails und seltene Telefonate –, genügte nicht, um einander Halt zu geben. Amelie wusste, dass Diana sich um sie sorgte. Aber im Moment gab es wirklich nichts, das ihre Freundin tun konnte am anderen Ende der Welt.
Sie musste sich ganz allein aus dem Sumpf ziehen.
Oder mit Arbeit ablenken.
Das war ihr Stichwort. Sie aß auf und machte sich auf den Weg, ehe sie der Mut verließ.
Sich abzulenken klappte prima, bis Amelie am späten Vormittag in der Stadtbücherei stand und versuchte, einem grimmigen Bibliothekar zu erklären, was sie von ihm wollte. Er antwortete auf Walisisch, als sie ihn in ihrem besten Englisch fragte, ob er wisse, wo sie Jonathan Bowden oder Roland Biggs fand.
«Ich spreche kein Walisisch», sagte sie.
Er antwortete auf Walisisch.
Sie warf in gespielter Verzweiflung die Hände in die Luft. «Haben Sie wenigstens einen Bibliothekskatalog, oder können Sie mir helfen, Bücher zu finden, die unter dem Schlagwort Lambton abgelegt sind?»
Er zeigte auf die gegenüberliegende Wand. Ein riesiger Karteikastenschrank mit unzähligen kleinen Schubladen, die vermutlich einen halben Meter tief waren und auf einzelnen Kärtchen die Bücherschätze dieser Bibliothek bargen. Kein digitaler Katalog, in den man einfach die Schlagworte eingab.
Sie hatte gewusst, dass die Arbeit an dem Buch nicht einfach sein würde. Aber dass die Waliser noch mit dem alten Karteisystem ihre Bücher katalogisierten … Sie seufzte und machte sich an die Arbeit.
Viel versprach sie sich nicht davon. Amelie hatte ihre ganze Hoffnung darauf gesetzt, die beiden Männer ausfindig zu machen, die – wenn sie ihren Recherchen glauben durfte – noch im Besitz von Originaldokumenten aus der Zeit von Beatrix Lambton waren. Angeblich gab es Briefe, die Beatrix an ihre Schwester Anne geschrieben hatte und die seit Jahrzehnten als verschollen galten.
Aber sie würde diese Briefe finden, das hatte sie sich fest vorgenommen.
Die nächste Stunde verbrachte Amelie damit, sich in das Ordnungssystem einzufuchsen, das in dieser Bibliothek eher nach dem Zufallsprinzip zu funktionieren schien. Manche Schlagworte waren alphabetisch sortiert, andere wiederum nach dem Erscheinungsdatum der
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