Der vergessene Strand
ließ sie sich alles entlocken, und es fühlte sich weder mühselig noch falsch an, und sie hatte nicht einmal dieses Gefühl von Nacktheit, das sie sonst immer hatte, sobald sie zu viel von sich preisgab.
Kann ja noch kommen, dachte sie.
«Du kannst es dir ja überlegen. Mein Haus steht dir jederzeit offen.» Er trocknete sich mit ruckartigen Bewegungen die Hände ab, sein Blick streifte sie. Als er die Küche verließ, löschte er das Licht, und ohne ihn kam die Stille. Vögel sangen vor dem Fenster, und es war inzwischen so hell, dass sie unmöglich noch mal einschlafen konnte.
Amelie faltete die Hände auf der Decke, über dem Bauch. Hallo, Kind, dachte sie. Alles gut da bei dir?
Und sie schlief mit einem Lächeln ein, das ihr selbst ganz und gar unerklärlich war.
Der Brief kam mit der Tagespost kurz nach dem Frühstück, und Beatrix ließ ihn liegen, weil Georgie weinte und seine beiden jüngeren Schwestern sich sprichwörtlich in die Haare gerieten. Sie zogen sich mit klebrigen Porridgefingern an den Locken und mussten nun beide gebadet werden, was sowohl die Zweijährige als auch die Dreijährige mit anhaltendem Gebrüll quittierten.
Georgie hingegen weigerte sich, ins Schulzimmer zu gehen, weil der Lehrer ihm mit dem Rohrstock auf die Finger haute, sobald er etwas falsch machte.
Sie hatte also ohnehin schon genug anderes zu tun. Einem der Dienstmädchen war nicht wohl, und Beatrix fürchtete, es bald fortschicken zu müssen, weil es sich seit einer Woche jeden Morgen übergeben musste. Es war nicht das erste Mal. Sie hatte Trisk im Verdacht und doch wieder nicht. Normalerweise hielt er seine Liebschaften aus ihrem Haushalt heraus.
Am Nachmittag hatte sie zu einem literarischen Salon geladen, und sie musste mit der Köchin die letzten Details besprechen. Es sollten Küchlein mit frischen Beeren gereicht werden, dazu Sandwichs verschiedener Art. Tee, Mokka, heiße Schokolade. Bees Salons zeichneten sich durch eine zurückhaltend schlichte Bewirtung aus, was sie nicht weniger beliebt machte. Mitunter kamen abgerissene, halb verhungerte Schriftsteller und Künstler, denen sie beim Abschied stets ein Fresspaket in die Hand drückte. London war ein Moloch, der großartige Künstler hervorbrachte, doch wenn man nicht aufpasste, wurden sie von der Stadt einfach so verschlungen.
So kam sie erst kurz vor der Mittagsstunde dazu, den Stapel Post zu sichten, der jeden Tag beachtlich war. Sie korrespondierte mit vielen Leuten, es kamen Einladungen, periodische Werke, mancher aufstrebende Autor schickte ihr sein Manuskript mit der Bitte um wohlwollende Beachtung und einen Zuschuss zu den Druckkosten für die Erstveröffentlichung – ewige Dankbarkeit und eine entsprechende Widmung seien garantiert –, und manchmal, viel zu selten in den letzten Monaten, schrieb ihre jüngere Schwester Anne.
«Sieh an», murmelte Beatrix. Sie drehte den Brief ein paarmal hin und her, ehe sie den schweren, vergoldeten Brieföffner zur Hand nahm und das Kuvert aufschlitzte. Sie nahm sich Zeit für diesen Brief. Nachdem sie Anne letzte Woche in einer heruntergekommenen Gegend der Stadt zufällig getroffen hatte, waren ihre Gedanken oft zu ihr gewandert. Was trieb ihre Schwester dort? Noch dazu mit einer Reisetasche?
Dieser Brief gab die Antwort. Aber es war nicht, was sie erwartet hätte.
«Ach, Anne …», seufzte Beatrix müde.
Sie war sich nicht sicher, was sie erwartet hatte. Eine Affäre mit dem Duke of G- allerdings – einem der mächtigsten Männer im Königreich, augenscheinlich seit vielen Jahren glücklich verheiratet, Vater, Großgrundbesitzer, reich und in ihren Kreisen für seine pointierten, politischen Äußerungen wenn nicht beliebt, so doch wenigstens geachtet –, das überstieg Beatrix’ Vorstellungsvermögen.
Einige Minuten saß sie einfach nur da und lauschte auf die Geräusche im Haus. Der leise Singsang des Kindermädchens drang aus der Zimmerflucht, in der ihre drei wohlgeratenen Kinder untergebracht waren. Dann, wie ein Wispern nur, hörte sie das stakkatoartige Aufsagen Georgies, dazu ganz leise im Takt das Klopfen des Rohrstocks auf dem Pult. Beatrix gefielen die Methoden des Lehrers nicht unbedingt, doch seine Referenzen waren ausgezeichnet, und ihr Sohn lernte unter diesen Bedingungen schnell. Er sollte kein verzärtelter Bub werden, der sich unter jedem lauten Wort duckte. Eines Tages würde er als Earl of Hartford über die Geschicke der Familie entscheiden.
Aber dieser Teil des
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