Der vergessene Strand
Hauses war ihr Reich. Hier regierte sie. Und das hieß auch, dass sie alles, was irgendwie mit ihrer Familie zusammenhing, zu verantworten hatte. Gab es Probleme, musste sie sie lösen. Nicht länger ihr Vater, der inzwischen alt und senil geworden war, auch nicht ihre Mutter, die immer nur aufgeregt von einer Soiree zur nächsten flatterte und von Annes ausgezeichneten Zukunftsaussichten schwärmte.
Anne hatte sich ihr anvertraut. Das hieß für Bee: Sie musste ihrer kleinen Schwester diese Affäre ausreden, und zwar bevor etwas passierte, das Anne und damit die ganze Familie in den Abgrund der Schande riss.
Und sie musste Anne schleunigst verheiraten, egal, an wen, ihrethalben dann eben an Sir Cornelius. Der weilte zwar inzwischen in Boston, aber Beatrix war sicher, dass der Brief einer Countess of Hartford, die ihm die Ehe mit der jüngeren Schwester antrug, ihn sofort nach London eilen ließ. Er hatte Geld, und Amerika war weit genug weg, um einen eventuellen Skandal vertuschen zu können.
Schweren Herzens machte Bee sich daran, ihrer Schwester zu schreiben.
Der Brief geriet kurz; sie hatte nicht viel zu sagen.
Anne,
das muss aufhören.
Ich kümmere mich um deine Zukunft; bitte tu du jetzt nichts Unbedachtes. du darfst ihn auf keinen Fall nochmals treffen!
In Liebe
deine Schwester Bee.
Selbst für ihre Verhältnisse ein harscher, beinahe grober Brief. Doch sie fürchtete um Anne.
Und betete inständig, es möge noch nicht zu spät sein.
Am frühen Abend des folgenden Tages spielten die Kinder friedlich in ihrem Zimmer. Der nachmittägliche Besuch – eine entfernte Cousine mit ihren beiden Töchtern, die jung und frisch waren und von denen sich besagte Cousine erhoffte, sie würden unter Beatrix’ Fittichen in die Gesellschaft eingeführt, damit sie dort die bestmögliche Zukunft fanden – hatte sich verabschiedet. Bee war in ihren Äußerungen vage geblieben. Sie half gern, aber allmählich hatte sie das Gefühl, niemandem ging es mehr um sie.
Das Leben als Countess war einsam geworden.
Ein Dienstmädchen meldete ihr eine späte Besucherin. «Sie hat ein Kind dabei», sagte das Mädchen beinahe verschwörerisch. Bee horchte auf.
«Ich lasse bitten.»
Die junge Frau – keine Dame, vielleicht eine Verkäuferin in einer Chocolaterie oder bei einem Hutmacher – trug ein hübsches, einfaches Kleid. Der Knabe war etwa zwei Jahre alt und hatte das blonde Haar der Mutter geerbt. Seine Haltung und die schwarzen Augen erinnerten Bee so frappierend an Trisk, dass sie nicht nachfragen musste, was der Grund für den Besuch war.
Sie bot dem Mädchen einen Platz an. Verschüchtert setzte es sich auf eines der Sofas im privaten Salon und zog den Kleinen auf ihren Schoß. Stumm und aufmerksam beobachtete der Junge Beatrix.
«Nun. Ich nehme an, Sie sind hier, weil Sie Geld benötigen.»
Das Mädchen – allenfalls zwanzig, schätzte Beatrix – lächelte verhalten. «Nein», erwiderte sie zu Bees Überraschung. «Ich möchte keine Almosen.»
Sie musterte das Mädchen von oben bis unten. Dieses besaß zumindest so viel Anstand, zu erröten.
«Sie wollen nicht allen Ernstes behaupten, er hat Sie in den letzten drei Jahren nicht unterstützt? Ich nehme an, Sie werden Ihre Arbeit verloren haben, und Ihre Eltern werden Sie auch fortgeschickt haben.»
«Meine Eltern sind tot.» Trotzig reckte ihr Gegenüber das Kinn. Beatrix verstand, was Trisk so sehr an diesem Mädchen reizte.
«Und jetzt zahlt er nicht mehr?» Sie versuchte, beiläufig zu klingen, doch darin schwang eine andere Frage mit. Hatte er das Interesse an dir verloren?
«Nein. Ich habe ihn seit zwei Jahren nicht gesehen, ich bekomme nur jeden Monat Geld von ihm geschickt. Ohne wäre ich in Whitechapel gelandet, und mein Kind …»
Sie sprach nicht weiter. Beatrix kam sich auch so schäbig genug vor. Trisk hatte sich nicht vor der Verantwortung gedrückt, gut. Trotzdem war sie jetzt hier.
«Wie heißen Sie?», fragte sie.
«Ellen, Mylady.»
«Gut, Ellen. Was möchten Sie von mir?»
Das Mädchen wandte kurz den Kopf zur Seite, als müsste es allen Mut zusammennehmen. «Da gibt’s einen Mann, der wohl bereit ist, über meinen Makel hinwegzusehen. Er könnt’ gut für mich sorgen, hat ein kleines Geschäft.»
«Das freut mich zu hören.»
«Er will aber keine Kinder von einem anderen, das hat er gesagt. Der kleine Henry», sie schluckte, «er will ihn nicht unter seinem Dach haben. Ich müsste ihn in ein Heim geben.»
Sie
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