Der vergessene Strand
der Hand. Schließlich wählte sie Michaels Nummer. War er schon in London gelandet? Würde er wirklich heute Abend kommen?
Er ging nach dem zweiten Klingeln dran. «Ich wollte dich auch gerade anrufen», sagte er. Im Hintergrund hörte sie Stimmengewirr, eine Lautsprecherdurchsage plärrte darüber hinweg.
«Hast du mit meiner Mutter geredet?»
«Der Flug wurde gerade storniert, und … was?»
«Ob du mit meiner Mutter gesprochen hast! Weiß sie, dass ich schwanger bin?»
«Liebes, ich verstehe dich nur ganz schlecht, hier ist der Teufel los. Ich versuche jetzt, einen Mietwagen zu kriegen oder einen Zug zu erwischen oder irgendwas. Hier ist …» Das Gespräch wurde unterbrochen. Amelie fluchte leise. Das hatte sie seit Jahren nicht erlebt, dass ein Handygespräch so abrupt endete. Oder hatte er das mit Absicht getan?
Irgendwie war alles einfach nur … falsch. Sie hatte das Gefühl, nicht mehr ihr eigenes Leben zu leben, sondern etwas, was nur noch entfernt daran erinnerte.
Als habe sie sich von sich selbst entfernt. Als müsse sie sich erst wieder finden und wissen, was sie wirklich wollte, bevor sie entschied, wie es weiterging.
Sie selbst. Nicht Michael oder Susel oder irgendwer. Nein.
Sie
musste sich klar darüber werden, wie ihr Leben aussehen sollte.
Heute Abend oder irgendwann im Laufe des morgigen Tages würde Michael vor ihr stehen, und er würde Entscheidungen von ihr verlangen. Er würde sich ihr erklären, und sie ahnte, dass er sie überzeugen würde, gemeinsam einen Neuanfang zu wagen. Sie konnte seine Argumente förmlich hören: Sie gehörten doch zusammen, man dürfe nicht gleich bei der geringsten Schwierigkeit alles hinwerfen, für das Kind sei es doch das Beste, wenn sie sich zusammenrauften.
Und so weiter.
Es war, als stünde sie zum allerletzten Mal in ihrem Leben an einer Kreuzung und dürfte selbst die Richtung wählen. Und das fühlte sich gut an: selbst entscheiden zu dürfen.
Sie fürchtete sich nur davor, von ihm überrollt zu werden.
Mit einem Stapel Kopien und mehreren Seiten Notizen verließ sie die Bibliothek. Dieser letzte Tag war erfolgreich gewesen, und sie fühlte sich erstaunlicherweise wieder ausgeruht genug, um nach dem Abendessen noch ein paar Stunden weiterzuarbeiten.
Dan erwartete sie. In der Apotheke brannte noch Licht, und als sie gegen die verschlossene Glastür klopfte, tauchte er aus dem hinteren Teil auf. Er lächelte, und sie spürte, wie sein Lächeln sie glücklich machte.
«Hattest du Erfolg?» Sie gingen nach oben, und Amelie legte den Stapel Unterlagen in der Küche ab. Cedric hatte ihr sogar erlaubt, das Buch mit den Fotografien aus dem Archiv mitzunehmen. Hoch und heilig hatte sie ihm versprechen müssen, dass sie es ihm morgen vor ihrer Abreise zurückbringen würde.
«Ich habe heute mehr gefunden als in den letzten zehn Tagen. Stell dir vor – das ist Anne!» Sie schlug das Buch auf und zeigte ihm die Fotografie. «Kennst du diesen Edwyn Rogers?»
Dan runzelte die Stirn. «Auf Anhieb nicht, aber das muss nichts heißen. Vielleicht ist er weggezogen. Miss Fenwick weiß bestimmt, wer er ist. Wenn er irgendwann mal hier gelebt hat, kennt sie ihn.»
«Sie kennt vermutlich jeden.»
«So ungefähr. Was wollte sie eigentlich von dir?» Dan trat an den Herd, auf dem wieder eine Suppe köchelte. Amelie schob sich neben ihn. Er trank Rotwein, und sie beneidete ihn einen kurzen Augenblick darum, weil der Wein bestimmt toll zu dem deftigen Eintopf passte.
«Lamm?»
«Cawl. Das walisische Nationalgericht mit Lamm und Lauch. Ich hoffe, du isst Fleisch?»
«Selten, aber ja.»
«Ich hole das Fleisch von einem hiesigen Schafzüchter. Also, was wollte Ruthie Fenwick von dir?»
«Ach so … Sie meinte, sie wüsste, warum Mr. Bowden so feindselig ist.» Mit wenigen Sätzen versuchte sie, die Geschichte plausibel zusammenzufassen, aber sie merkte selbst, wie merkwürdig das alles klang.
«Ich wusste nicht, dass er einen Sohn hat.»
Mehr sagte Dan nicht.
«Du glaubst die ganze Geschichte nicht?»
Er zuckte bloß mit den Schultern. «Ist doch egal, was ich glaube. Wichtig ist, was du denkst.»
«Ich weiß es nicht», gab sie zu. «Ich hätte gerne Antworten. Mich hat es nie besonders interessiert, wer mein Vater war. Ich glaube, so richtig bewusst habe ich ihn auch nie vermisst. Aber jetzt …»
«Wahrscheinlich wünschst du dir jetzt, du hättest nie von der Möglichkeit erfahren, dass dieser Ort Teil deiner Vergangenheit ist.»
Das mochte sie
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