Der vergessene Strand
an ihm: Er sagte immer genau das Richtige.
«Was möchtest du trinken? Oh, hätte ich mir überhaupt Wein aufmachen dürfen? Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich welchen trinke.»
«Ist schon in Ordnung.»
Sie entschied sich für ein Glas Wasser. Der Eintopf war köstlich, aber irgendwas schien Dan die Laune verdorben zu haben. Er plauderte, hörte ihr zu, stellte kluge Fragen. Sein Blick aber huschte immer wieder von ihr weg. Nach dem Essen lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
«Alles in Ordnung?», fragte Amelie.
«Ja, natürlich. Ich denke nur nach.» Und dann, nach einer kurzen Pause, fügte er hinzu: «Ist es nicht merkwürdig, dass du ausgerechnet
hier
deiner Vergangenheit begegnest? Ich meine, wie wahrscheinlich ist das?»
Amelie zuckte mit den Schultern. «Ich weiß es nicht. Ziemlich unwahrscheinlich, nehme ich an.»
Ein großer Zufall war es, mehr nicht. Aber je länger sie darüber nachdachte, umso plausibler schien es ihr, dass Dan irgendwie recht hatte. Ja, das Ganze war merkwürdig.
«Wie bist du auf die Idee gekommen? Ich meine, die Idee für dein Buch?»
«Keine Ahnung», gab sie zu. «Also doch, natürlich weiß ich, wieso ich über Beatrix Lambton schreibe.» In wenigen Sätzen erzählte sie ihm von den Memoiren, die sie vor vielen Jahren im Bücherschrank ihrer Mutter gefunden und nie zurückgegeben hatte.
«Und Beatrix hat eine Zeitlang hier in Pembroke gelebt?»
«Nein. Anne, ihre Schwester.» Amelie holte das Buch und zeigte ihm die Aufnahme von Anne. «Beatrix war nur einmal zu einem längeren Besuch hier, im Frühjahr 1896 .»
Nachdenklich drückte sie das Buch gegen ihre Brust. «Ich kann nicht weg, ohne noch einmal mit Mr. Bowden gesprochen zu haben. Ich muss die Wahrheit wissen.»
«Die er dir vermutlich nicht so ohne weiteres sagen wird.»
«Nein, vermutlich nicht.»
Sie räumte den Tisch ab. Als Dan Spülwasser einließ, rief Michael wieder an. Er hatte einen Flug erwischt und war jetzt mit dem Auto unterwegs nach Pembroke. In drei Stunden sei er da, sagte er. Ob er da schlafen könne, wo sie sich ein Zimmer genommen hatte. Ob sie ein Doppelzimmer hätte.
Amelie druckste herum. «Hier ist Sängerfest. Ich bin privat untergekommen.»
«Ist da auch noch Platz für mich? Sonst muss ich mir woanders was suchen.»
Sie fragte Dan. «Mr. Amelie kommt heute Nacht noch vorbei. Kann er …» Sie wich seinem Blick aus.
«Hier ist Platz genug.»
Sie nannte Michael die Adresse. Nachdem sie aufgelegt hatte, schwiegen beide sehr lange. Dan lehnte lässig am Herd und trank Wein, während Amelie nicht wusste, wohin mit ihren Händen. Schließlich steckte sie sie in die Hosentaschen.
«Mr. Amelie also? Ich hielt ihn fast für ein Phantom.»
«Und das ist wirklich okay für dich?»
«Klar. Das Gästebett ist groß genug.»
Sie blieben an diesem Abend nicht in der Küche, sondern wechselten ins Wohnzimmer. Amelie wärmte ihre klammen Finger an einem Becher Tee, Dan hielt sich an den Wein. Er trank viel, ohne dass es ihm irgendwie anzumerken war. Sie redeten, doch es war irgendwie anders als noch am Vorabend. Verhaltener. Nicht so ausgelassen, sondern eher, als fürchteten beide, sich mit einem falschen Wort, einer falschen Geste aufs Glatteis zu begeben.
Ich mag ihn, dachte sie. Verdammt, ich mag ihn.
Und sie hatte absolut keine Lust, mit Michael ihre Beziehung zu diskutieren. Sie wollte sich vor der Verantwortung drücken, das wusste sie selbst. Aber was hatte er denn vorher getan?
Wie sie es auch drehte und wendete – ihr Leben war ein einziges Durcheinander. Ungefähr so wie die verknoteten Wollknäuel, die sie manchmal im Handarbeitsunterricht erwischt hatte. Von außen sahen sie prima aus, doch wenn man am Faden zog, ging es entweder nicht weiter, oder aus dem Innern des Knäuels quoll ein Wust aus Fäden, den die strenge, sonst so beherrschte Handarbeitslehrerin als «Wollkotze» bezeichnete.
Ihr Leben war Wollkotze.
Keine schöne Vorstellung.
Als Erstes schickte Beatrix eine Nachricht an den Duke of G-.
Erst dann antwortete sie auf Annes Nachricht.
Ihre kleine Schwester war ihr immer willkommen. Auch jetzt, da Anne über das gestürzt war, was sie bald als ihren größten Fehler begreifen würde.
Anne brauchte ihr nicht zu sagen, was passiert war. Beatrix musste nur den kleinen Henry im Spielzimmer ansehen, der mit solch kindlichem Ernst versuchte, ihr Herz zu erobern. Für ihn kam sie der Mutter am nächsten, denn die
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