Der vergessene Strand
und Fremde ängstigten es.
«Wie …»
«Er wurde mir … geschenkt. Ja, ein Geschenk des Himmels, das ist er.»
Anne sagte nichts. Erst als sie allein in der Kutsche saßen – die Kinder und Dienerinnen quetschten sich in die andere, größere –, hakte sie nach.
«Du ziehst Trisks Bastard groß?» Anne war ehrlich schockiert.
«Was soll ich denn machen? Seine Mutter wollte ihn nicht, weil sie heiraten wollte. Kann ich so ein kleines, braves Kind einem ungewissen Schicksal überlassen? Soll ich es in ein Waisenhaus geben?»
Darauf wusste Anne keine Antwort, und sie schwieg sehr lange. Beatrix ließ sie in Ruhe; es gab viel nachzudenken.
Und wenn der kleine Henry ihre Schwester zum Nachdenken brachte, die sich so sorglos in eine schier ausweglose Situation gebracht hatte – nun, dann hatte dieses Kind doch schon viel erreicht in seinem jungen Leben.
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Kapitel 11
D ie Begrüßung mit Michael fiel linkisch aus. Beinahe wie zwei Fremde standen sie einander gegenüber und umarmten sich. Amelie machte sich sofort von ihm los.
«Das ist Dan», sagte sie. Dan löste sich vom Türrahmen, an dem er lässig gelehnt hatte. Die beiden Männer gaben sich die Hand und musterten einander. Dan mit dem schwarzen T-Shirt und der abgewetzten Jeans auf der einen Seite, Michael mit einer Stoffhose, einem Baumwollpullover und einer modischen Sommerjacke auf der anderen. Zwischen diesen beiden Männern lagen Welten.
Sie fühlte sich nicht wohl. Es war spät, und sie hatte die letzte Stunde auf dem Sofa geschlafen, während Dan im Sessel gesessen und gelesen hatte. Diesmal hatte sie sein Schweigen als unangenehm empfunden, aber vermutlich war das nur Einbildung.
Sobald Michael und sie allein waren, umarmte er sie erneut. Sie ließ zu, dass er ihren Kopf an seine Brust zog. Seine Hände fuhren über ihren Rücken, und er vergrub das Gesicht in ihrem Haar. «Es tut mir so leid, Am. Das alles … Es tut mir wirklich schrecklich leid. Ich wünschte, ich könnte es irgendwie wiedergutmachen.»
Sie löste sich behutsam von ihm. «Wohnt sie bei dir?», fragte sie, weil ihr diese Frage seit Tagen immer wieder durch den Kopf ging. Hatte die Andere sich wirklich sofort bei ihm eingenistet? Hatte Amelie mit ihrer Flucht vorschnell das Feld geräumt? Hatte sie einen Fehler gemacht?
Er wich ihrem Blick nicht aus. «Es ging ihr nicht gut», erklärte er. «Und ich konnte sie damit doch nicht allein lassen.»
Doch, dachte Amelie. Das hättest du tun können. Sie verstand aber, was er meinte. Michael besaß Pflichtbewusstsein. Und wenn ihm diese andere Frau seinen Herzenswunsch erfüllte, dann musste er sich zerrissen fühlen. Außerdem war sie ja Hals über Kopf weggelaufen. Als es Sabina dann noch schlechtging, hatte er vermutlich keinen Widerstand mehr leisten können.
«Aber sag, wie geht es dir? Hast du schon einen Arzt aufgesucht?» Er legte die Hand auf ihren Bauch.
Entschieden schüttelte sie den Kopf. «Was denn, hier? Wohl kaum.»
«Dann sollten wir schleunigst heim, damit du zu deinem Frauenarzt kannst. Ich freu mich so.» Sein Kuss landete auf ihrem Mundwinkel, weil sie den Kopf wegdrehte. Beide schwiegen verlegen, und Amelie setzte sich aufs Bett.
«Dieser Dan … Hast du die ganze Zeit bei ihm gewohnt?»
«Ach, hier ist doch jetzt dieses Sängerfest, deshalb sind alle Hotels ausgebucht. Er war so nett, mir sein Gästezimmer anzubieten.»
«Hm. Macht einen netten Eindruck.»
«Ja, das ist er auch.»
Im Bett schlief Michael sofort ein. Die Hand auf ihrer Hüfte und das Gesicht in ihrem Nacken vergraben, lag er dicht hinter ihr. Amelie konnte nicht einschlafen. Die Müdigkeit war nicht weg, doch jedes Mal, wenn sie in den Halbschlaf glitt, schreckte sie sofort wieder hoch.
Schließlich hockte sie sich auf die Bettkante und wartete, doch Michael wachte nicht auf. Er war zu erschöpft von der Reise.
Im Dunkeln schlich sie durch die Wohnung. Wie schon gestern tapste sie auf nackten Füßen in die Küche. Und wie gestern stand eine dunkle Gestalt vor dem Fenster und wandte ihr den Rücken zu.
Diesmal entschuldigte sie sich nicht, sondern näherte sich ihm langsam. Sie blieb hinter ihm stehen und tat nichts. Er hielt das halbvolle Weinglas in der Hand. Draußen rauschte leise der Regen.
«Ich kann nicht schlafen», sagte sie leise. «Ich …»
Er drehte sich um. Sein Blick suchte ihren, und kurz glaubte sie, er würde im Dunkeln die Hand heben und ihr die Haare aus dem Gesicht streichen.
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