Der vergessene Strand
abwesend ist oder in der ich ganz auf mich gestellt bin. Vielleicht wollte ich auch gar keine Familie. Ach, ich weiß es nicht.»
«Ich wollte ziemlich lange meine Freiheit nicht aufgeben», gab Dan zu. «Es gab Zeiten, da war ich eben allein, und es war okay. In anderen Zeiten war es nicht okay. Und es gab die Phasen, in denen ich mich auf meine Freiheit berief, um mich nicht zu fest binden zu müssen.»
«Und wie ist das heute?»
«Heute … Nun ja. Heute weiß ich zwar, was ich will. Aber in diesem speziellen Fall bleibt es mir wohl verwehrt.»
Amelie wusste nicht, was sie denken sollte. Sie kannten sich doch erst wenige Tage, und es war noch viel zu früh, um über etwas nachzudenken, das …
Aber dann erinnerte sie sich, wie es mit Michael gewesen war. Dass sie schon nach der ersten Vorlesung, bei der sie ihm hingerissen gelauscht hatte, wusste: Der ist es.
«Ich weiß nicht.» Ihre Finger verflochten sich mit seinen, und sie spürte wieder seinen Daumen, der so unanständig harmlose Sachen mit ihrer Handfläche machte, die sie bis in den Unterleib erbeben ließen. «Ob es dir verwehrt bleibt, meine ich.»
Danach brauchten sie keine Worte mehr. Sie rückte etwas zu ihm, er kam zu ihr. Seine Hand hielt ihre, der Daumen drückte sich in ihre Handfläche. Die andere Hand streichelte ihre Wange, fuhr in ihren Nacken. Sie blickten einander lange an und sagten nichts, bis Dan sich zu ihr herüberbeugte.
Sekundenlang verharrten sie. Ihre Nasen berührten sich, ihre Münder aber noch nicht. Amelie roch seinen Atem, sie war wie berauscht von seinem Duft. Seine Berührungen weckten in ihr die Erinnerung daran, wie es früher gewesen war. In jener Zeit als Jugendliche, wenn sie sich alle paar Wochen unsterblich verliebte und mit Jungs auf dem Schulhof knutschte.
Reglos kosteten sie diese Nähe aus, die so dicht davor war, viel zu viel zu werden. Amelie hob ebenfalls die freie Hand, legte sie auf seine Brust und spürte sein Herz schlagen.
«Dürfen wir das?», flüsterte er.
Ist es okay für dich, wenn ich dich jetzt küsse?
«Nein», wisperte sie.
Ja. Küss mich.
«Ich würde so gern.»
«Ich auch.»
Tun wir’s doch einfach. Scheiß auf die Konsequenzen. Verirren wir uns eben in einem Gefühlslabyrinth. Wer kann es uns verbieten?
So verharrten sie. Atmeten ein, atmeten aus. Taten nichts, außer diese absolute Nähe zu trinken, sich darin zu verzehren, weil es da dieses Mehr gab, das sie sich nicht erlaubten.
Schließlich seufzte Dan und löste sich von ihr. Amelie zog sich ebenfalls zurück. Sie saßen in den beiden Sofaecken, so weit wie möglich voneinander entfernt. Amelies Wade schmerzte, sie wusste gar nicht, wie lange sie so dicht beisammengesessen hatten. Wie lange sie gegen die Versuchung angekämpft hatten, sich zu küssen, einander zu streicheln, sich auszuziehen. In sein Schlafzimmer zu taumeln oder in ihres. Sie war so atemlos, als hätten sie all das gerade getan.
Zumindest in ihrer Phantasie hatten sie es getan.
Seine Hand berührte ihren Fuß, und sie zuckte zusammen.
«Nicht gut?», fragte er.
«Doch.» Nur ein heiseres Flüstern. «Zu gut.»
Wie konnten sie einfach weitermachen, nachdem sie einander so nahe gewesen waren? Sie schwiegen. Blickten sich über die zwei Meter Sofa hinweg an, lächelten und wussten doch nicht, was sie sagen sollten.
Schließlich raffte sich Amelie auf. «Ich versuche noch mal zu schlafen.»
Er nickte. Sie standen auf, und Amelie ging ganz langsam, weil sie eigentlich nicht müde war und überhaupt nicht ins Bett wollte. Dan folgte ihr, seine Hand suchte wieder die ihre. Hielt sie fest. Sie zögerte nicht, als er sie sanft zur Treppe zog, sondern folgte ihm in sein Schlafzimmer.
Eine Bettdecke genügte ihnen, denn sie wärmten sich aneinander. Es war ganz einfach, sich an den anderen zu kuscheln. Sie spürte seine Arme, seinen Körper, der sie von hinten fast umschloss. Eine Hand ruhte auf ihrem Bauch, die andere lag in ihrem Nacken, wie eine Liebkosung. Sie legte ihre Hand auf seine, und so lagen sie einfach da, bis Amelie sich umdrehte.
«Ich will dich sehen», flüsterte sie.
Er lachte leise. Es war dunkel im Schlafzimmer, und bis die Sonne aufging, mochte noch eine Stunde vergehen. «Du schläfst doch ein, bevor du mich siehst.»
Trotzdem. So fühlte es sich richtig an. Ihre Augen gewöhnten sich an das Dunkel, und sie erkannte bald mehr von ihm. Die dunklen Augen, die sie unverwandt anschauten. Die Haare, die inzwischen ziemlich verwuschelt
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