Der vergessene Strand
waren. Sie zeichnete die Konturen seines Gesichts nach, ohne ihn zu berühren. Beide waren sprachlos von dieser Nähe, die sich für Amelie anfühlte, als sei ein letztes, großes Puzzleteil an seinen Platz gefallen, förmlich eingerastet. Es war ein körperliches Ankommen, ein Zuhausesein, ein inniges und völlig unerklärliches Zugehörigkeitsgefühl. Sie dachte sogar einen Moment darüber nach, ob sie Dan irgendwann früher schon mal begegnet war. Damals, als sie hier noch gelebt hatte. Aber das konnte nicht sein.
Und dieses wohlige Bewusstsein, angekommen und angenommen zu sein, das sie so bisher noch nie empfunden hatte, schaffte es, was alles Grübeln in den wachen Stunden dieser Nacht nicht geschafft hatte. Die Augen fielen ihr zu, während sie sein Gesicht las wie ein Buch. Zwei, drei Mal riss sie die Augen gewaltsam wieder auf, und jedes Mal lächelte er im Dunkeln.
Ich bin hier, Amelie.
Das sagte sein Blick, das sagten seine Hände und sein ihr zugewandter Körper.
Ich bin hier und verlange nichts.
Sie gab sich dem Schlaf einfach hin, der sie umarmte wie Dan. Das Letzte, was sie wahrnahm, war das Zwitschern der Vögel. Der neue Tag war da, und sie fand Ruhe im Bett eines Mannes, der nicht viel sagen musste, um eine Geborgenheit zu erschaffen, die Michael nie hatte herbeireden können.
Am nächsten Morgen wachte sie zum ersten Mal seit langem frisch und ausgeruht auf, obwohl sie kaum länger als drei Stunden geschlafen hatte. Dan lag noch immer neben ihr und beobachtete sie. Doch er musste zwischendurch aufgestanden sein, denn neben dem Bett stand ein Tablett mit Toast und Tee, und das Fenster war weit offen und ließ frische Luft ins Zimmer.
«Guten Morgen», flüsterte er.
Sie richtete sich auf. «Guten Morgen.»
Und merkte: Ruckartige Bewegungen am frühen Morgen waren nicht das Richtige für ihren Körper. Jedenfalls nicht, solange sie noch von morgendlicher Übelkeit geplagt wurde.
Also sank sie zurück in die Kissen, und Dan lächelte nachsichtig. Sie wartete, bis das Schlimmste vorbei war und richtete sich wieder auf. Jetzt ging es besser.
Nachdenklich beobachtete Dan sie, während Amelie vorsichtig eine Scheibe trockenen Toast knabberte und am Tee nippte.
«Wie geht es jetzt weiter?», fragte er.
Eine typische Frage, die man sich nach der ersten gemeinsamen Nacht eben stellte, nur mit dem Unterschied, dass sie zwar gemeinsam geschlafen, aber nicht miteinander geschlafen hatten. Ein Unterschied, der für den Moment eine große Bedeutung hatte. Denn Amelie wusste, wie sehr es wehtat, wenn man betrogen wurde. Und sollte es für Michael und sie eine Zukunft geben – was sie sich im Moment kaum vorstellen konnte, weil ihr die Vorstellung noch fremder war als gestern –, dann wollte sie sich nichts vorwerfen müssen.
Vielleicht war es aber noch schlimmer, dass gar nichts passiert war. Dass Dan und sie einfach nur nebeneinander eingeschlafen waren und sie sich in seiner Gegenwart ausgeruht hatte.
Sie wusste nicht, was richtig war und was falsch.
Aber sie hatte heute Nacht schlafen können, und das war für sie nach den letzten Tagen und all der Aufregung ein kleines Geschenk.
Nachdem sie gefrühstückt hatte, legte sie sich einfach wieder hin. Dan blieb bei ihr, bis sie eingeschlafen war, dann schlich er aus dem Zimmer, zog die Tür hinter sich zu und ließ sie allein.
Sie lächelte im Schlaf. Das hier, das spürte sie, war ein bisschen mehr Glück, als sie verdient hatte.
Natürlich ließ G- sich nicht von den Verboten seiner Frau oder von der Meinung der Gesellschaft davon abhalten, den Briefen Taten folgen zu lassen.
Im November kam er nach Pembroke. Alle Welt glaubte, der Duke sei im Norden, unterwegs auf seinen Gütern in Edinburgh und Yorkshire, und dort war er auch gewesen. Doch auf dem Rückweg machte er einen Umweg und stand eines Abends völlig unverhofft vor Anne.
Sie wusste, dass sie dafür würde büßen müssen. Elise würde seinen Besuch zum Anlass nehmen, der Duchess einen Brief zu schreiben und die Liebenden zu verraten. Aber für den Moment kümmerte es Anne nicht. Sie fiel in seine Arme und barg den Kopf an seiner Schulter.
«Anne.» Sanft schob er sie von sich weg und musterte sie prüfend. Die modischen Kleider waren einer eher zweckmäßigen Kluft gewichen. Jetzt waren ihre Kleider weit, um ihrem runden Bauch Platz zu bieten. Sie musste den Mantel immer zuknöpfen, wenn sie aus dem Haus ging, darauf bestanden Elise und Franny gleichermaßen – Elise,
Weitere Kostenlose Bücher