Der vergessene Strand
heulen. Schlimm mit mir, was? Eine alte Frau, die in Tränen ausbricht. Wann? Ich meine: Weißt du, wann es kommt?»
Das wusste Amelie nur so ungefähr, weil sie bisher noch nicht beim Arzt gewesen war. «Es wird wohl im Januar so weit sein», murmelte sie.
«Und jetzt raufst du dich wieder mit Michael zusammen, ja?»
«Mal sehen.»
«Mal sehen? Er ist der Vater deines Kindes. Oder? Kind, du hast doch keinen Unsinn gemacht? Es reicht, wenn er eine Dummheit begeht, du musst ihm nicht auch noch ein Kuckuckskind unterjubeln.»
Ach so, dachte Amelie. Er durfte Dummheiten begehen, aber sie sollte sich an die Regeln halten?
«Also, wann kommst du wieder her? Du kommst doch wieder her? Du musst unbedingt zum Arzt, damit wir erste Ultraschallbilder kriegen. Ist das aufregend! Wo steckst du eigentlich die ganze Zeit? Ich hab Michael schon gefragt, aber er ist im Moment nicht besonders zugänglich.»
Kein Wunder. Amelies Mutter war zwar Michaels größter Fan, aber er fühlte sich von ihrer Art immer etwas überrollt.
Amelie atmete tief durch. «Ich bin immer noch in Wales», sagte sie. «In Pembroke. Und … ich hab da was Spannendes herausgefunden. Ein gewisser Mr. Bowden hilft mir.» Das war zwar gelogen, denn Jonathan hatte ihr bisher gar nicht helfen können, aber sie fand, dass der Zweck in diesem Fall die Mittel heiligte.
Es war schlagartig still in der Leitung.
«Ich habe für mein Buch recherchiert. Du weißt schon – Beatrix Lambton und die Freiheit der Frau im frühen 20 . Jahrhundert.»
«Ja, ich weiß. Natürlich weiß ich, woran du arbeitest.» Ihre Mutter klang merkwürdig, fast ein bisschen verwirrt. Als wüsste sie nicht, was sie mit der Information anfangen sollte. Als suchte sie krampfhaft nach einem Weg, sich ganz unverfänglich nach diesem Mr. Bowden zu erkundigen.
Und dieser Mr. Bowden, das ist wohl so ein junger, knackiger Waliser? Mach mir keine Dummheiten, Kind!
Das hätte zu Mama gepasst. Aber sie schwieg.
«Mama, ich wollte dich was fragen.»
«Ja?»
Sie täuschte sich nicht. Ihre Mutter klang … verloren. Susel Franck, souveräne Chefin eines kleinen Lädchens, gute Freundin für viele, lebensfroh und nie um einen Rat verlegen. Sie klang beklommen. Ängstlich fast.
«Habe ich schon mal hier gelebt? In Pembroke? Es gibt da ein Haus mit einer blauen Tür, und …»
«Unsinn, Amelie. Wann soll das gewesen sein?», unterbrach Susel sie. So heftig, dass sie den schrillen Unterton nicht verbergen konnte.
«Vor meinem fünften Geburtstag. Ich hab an die Zeit keine Erinnerung, und hier bin ich jemandem begegnet.»
«Einem Hochstapler. Einem Lügner.»
«Meinem Großvater.»
Das Schweigen zwischen den Sätzen dehnte sich. Amelie fragte leise: «Mama?»
«Tut mir leid, Liebes. Ich würde furchtbar gern länger mit dir plaudern, aber ich muss jetzt los. Die Arbeit ruft, ich muss den Laden aufsperren! Lass uns heute Abend noch mal telefonieren, ja? Bestimmt klärt sich dieser merkwürdige Irrtum auf.»
«Mama!»
Aber ihre Mutter hatte aufgelegt. Peng, einfach so.
Merkwürdiger Irrtum also. Mehr hatte ihre Mutter nicht zu sagen. Und legte gleich noch einen filmreifen Abgang hin. Mama war immer schon die Dramatische gewesen. Sie schrie den Gemüsemann an, wenn der Salat in der Kiste welkte, regte sich über Kleinigkeiten schrecklich auf, aber nahm große Nachrichten stoisch auf, als sei das eben so.
Ihre Schwangerschaft zum Beispiel. Die hatte sie, fand Amelie, gar nicht richtig gewürdigt.
Und das machte sie wütend. Und traurig. Und noch wütender. Trotz regte sich in ihr. Ihre Mutter meinte, Amelie habe in Pembroke keine Vergangenheit? Dann würde sie sie vom Gegenteil überzeugen!
Ihr war beklommen zumute, als sie wieder vor der blauen Tür stand.
Aber sie brauchte Antworten.
Jonathan öffnete nach dem ersten Klopfen und musterte sie schweigend.
«Hallo», sagte Amelie schüchtern.
«Amy.» Er seufzte ihren Namen, als sei sie eine Landplage, die wieder über ihn gekommen war.
«Ich habe Fragen.»
«Das habe ich mir schon gedacht. Antworten bringen immer neue Fragen hervor.» Er schaute an ihr vorbei. «Heute ohne den Langweiler?»
«Er ist zurück nach Deutschland gefahren.»
«Na ja. Komm rein.»
Sie setzten sich wieder in die Küche. Jonathan stellte eine Dose mit Keksen auf den Tisch und kochte Kaffee. Sie sprachen über Pembroke, über das Wetter. Amelie erzählte von ihrer Arbeit und von ihrem Besuch bei Mrs. Elswood.
«Die wird dich ganz schön in die
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