Der vergessene Strand
Mangel genommen haben.»
«So ungefähr. Sie wollte alles wissen. Wobei ich keine Ahnung habe, worauf sie anspielt. Ich hab keine Erinnerung an die Zeit hier.»
Er blickte überrascht auf. «Gar nichts?»
«Ich konnte mich an die blaue Tür erinnern. Aber erst, als ich das erste Mal davorstand. Zufall, mehr nicht.»
«Früher habt ihr hier gewohnt. Das Haus gehört schon recht lange der Familie. Hundert Jahre? Vielleicht noch länger.»
«Erzähl mir von der Familie. Nicht von den letzten dreißig Jahren», fügte sie hastig hinzu, weil sie seinen Widerstand beinahe körperlich spürte. «Erzähl mir davon, wie es früher war. Als du noch ein Kind warst. Oder was du von der Zeit vor deiner Geburt weißt.»
Er lachte. «Das ist gar nicht mal so wenig», erklärte er. «Meine Mutter hat mir immer davon erzählt. Hast du ein bisschen Zeit?»
«So viel Zeit, wie wir eben brauchen.»
Sie saßen am Küchentisch, zum Kaffee gab es Kekse, die Jonathan stippte – die Zähne, erklärte er bedauernd, die seien eben nicht mehr so stark und zahlreich wie in seiner Jugend. Amelie stippte auch, und sie hörte aufmerksam zu. Vieles klang fremd, aber einiges ließ in ihr etwas Vertrautes anklingen. Das konnte jedoch auch Einbildung sein. Ihrer Erinnerung halfen die alten Geschichten jedenfalls nicht auf die Sprünge.
Sie erfuhr von Jonathans Großvater, der als Offizier die Weltmeere bereist und sich früh zur Ruhe gesetzt hatte. Er nahm ein junges Mädchen zur Frau, mit dem er dann sieben Kinder hatte. Die älteste Tochter überwarf sich mit den Eltern, weil sie mit sechzehn einen Schäfer kennenlernte, in den sie sich haltlos verliebte. Er hatte nicht mehr als eine Kate draußen am Meer, und der alte Seebär fand, das sei seinem Kind nicht angemessen, weshalb er dem Schäfer das Haus unter dem Hintern wegriss und stattdessen ein neues baute – aus Stein, mit Schindeldach und weiß getünchten Wänden, mit drei Schlafzimmern für die zahlreichen Kinder, die sie hoffentlich bekämen. Doch die Ehe blieb kinderlos. Später erbte Jonathan das Häuschen als Sohn des ältesten Bruders der jungen, verirrten Schäfersfrau.
«So sind wir an unser Strandhaus gekommen. Es war ein schöner Ort. Nach dem Krieg haben meine Amy und ich es uns dort gemütlich gemacht. Ihr habt dann dort gewohnt, als deine Mutter hergezogen und geheiratet hat. Es bot euch genug Platz, und dass es dort zunächst keinen Strom gab, störte nicht. Inzwischen gibt es Strom und Telefon, beheizt wird es aber weiterhin mit Holz, und in der Küche steht ein alter Herd. Warst du inzwischen am Strand? Dann wirst du es vielleicht gesehen haben – es liegt ganz in der Nähe, ringsum sind sonst keine Häuser. Schön einsam, wenn man gerne einsam ist.»
Amelie schüttelte den Kopf. Sie hatte das Haus nicht gesehen, aber vielleicht war es das, von dem Dan ihr erzählt hatte?
«Jedenfalls wird es eines Tages dir gehören. Dein Vater will es nicht, das weiß ich.»
«Oh.» Mehr brachte Amelie auf die Schnelle nicht hervor.
«Und da es ohnehin irgendwann dir gehört, kannst du es eigentlich ruhig jetzt schon haben.» Schwerfällig erhob Jonathan sich. Er wirkte plötzlich müde.
Als er mit einem Schlüsselbund zurückkam, schien ihn sein Gewicht nach unten zu ziehen, und er musterte Amelie nachdenklich. «Wir waren da sehr glücklich», meinte er. «Aber jedes Glück findet irgendwann sein Ende.»
«Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll …» Sie nahm die Schlüssel entgegen. Ein eigenes Haus, hier in Pembroke. Das schien all ihre Probleme auf einen Schlag zu lösen. Sie musste nicht zurück in ein Hotel, wenn das Sängerfest vorbei war. Und sie konnte Abstand finden von Dan – wenn sie das wollte.
Drei Schlüssel an einem rostigen Ring, alle so alt, dass sie vermutlich aus der Entstehungszeit des Hauses stammten. Wann das wohl gewesen sein mochte? In den Dreißigern des letzten Jahrhunderts? Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg?
Jonathan war knapp siebzig, und seine Großeltern hatten während des Ersten Weltkriegs geheiratet. Seine Tante, die Frau des Schäfers, war im Jahr darauf geboren und hatte Mitte der 1930 er geheiratet. Ja, das Haus musste inzwischen an die achtzig Jahre alt sein.
Und es lag weit draußen. Amelie war nicht sicher, ob ihr das behagte.
«Strom und Wasser zahle ich wohl über den Sommer, wenn du da bist. Bin sowieso alle paar Wochen mal draußen, im Winter häufiger, dass die Leitungen nicht einfrieren. Ist gut in Schuss, das Haus. Wenn
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