Der vergessene Strand
Keksen und dünnem Tee gab es nichts. Und vermutlich hatten sie sich auch das vom Mund abgespart. Beatrix verkniff sich eine Bemerkung.
Anne starrte auf das Päckchen und sagte nichts.
«Das», sagte Beatrix streng, «sind deine Briefe an ihn. Die ich für dich weitergeleitet habe, weil ich hoffte, du würdest den Ernst der Lage begreifen und nicht irgendwas unternehmen, was deine ganze Familie in den Abgrund reißen könnte.»
«Woher … hast du …»
«Ob ich sie gelesen habe? Nein. Aber mir wurden einige Passagen vorgelesen. Anne! Ich habe dir vertraut, als ich versprach, deine Briefe an ihn weiterzuleiten. Was ich nie von dir gedacht hätte, ist dieses Flehen. Dieses Betteln! Hast du denn keinen Funken Anstand mehr im Leib?»
Anne reckte trotzig das Kinn. «Ich liebe ihn, und er liebt mich. Was ist so falsch daran?»
«Alles», erwiderte Beatrix betrübt. Genau diese Antwort hatte sie befürchtet. «Er wird sich nicht mehr bei dir melden, Anne. Seine Frau …»
Was genau zwischen Duke und Duchess vorging, entzog sich Beatrix’ Kenntnis. Aber nachdem nun der Skandal publik geworden war … Bee vermutete, dass dies ein wohlkalkulierter Schritt der Duchess war, die sich auf diese Weise als armes Opfer hinstellen konnte, während alle anderen in diesem perfiden Spiel die Rollen der Täter übernehmen mussten. Ganz London spekulierte nun darüber, wie es um die Ehe derer of G- bestellt war, welche Rolle Anne spielte, warum sie verschwunden war – und vor allem, was Beatrix damit zu tun hatte. Denn jemand hatte das Gerücht verbreiten lassen, dass sie sich mehrmals mit dem Duke allein getroffen hätte, obwohl sie ihn seit jenem Besuch in Trisk Manor nur ein- oder zweimal gesehen hatte, und das war jeweils bei jenen gesellschaftlichen Veranstaltungen passiert, bei denen man sich nur aus der Ferne stumm zunickte.
Am schlimmsten war für Beatrix Trisks Reaktion. Er hatte bisher alles mit einer bewundernswerten Geduld hingenommen und Beatrix die Zügel überlassen. Als jetzt jedoch das Gerücht die Runde machte, auch seine Frau vergnüge sich mit einem anderen Mann, war seine Geduld am Ende. Er sperrte sie daheim quasi ein, war aber selbst die meiste Zeit unterwegs – und ließ sich vermutlich von seinen Mätressen trösten. War er dann daheim, strafte er Beatrix mit Missachtung. Die Kinder litten ebenfalls, denn er behandelte sie wie Luft. Nur der kleine Henry war ihm noch lieb, und das schmerze Beatrix am meisten. Sie liebte den Kleinen, aber er blieb Trisks Bastard. Statt hinter den anderen zurückstecken zu müssen, wurde er jetzt verhätschelt und bevorzugt.
Doch davon erzählte sie ihrer Schwester nichts. Sie versuchte immer noch, Anne vor der Wahrheit und dem Leben zu beschützen. Aber was hatte es ihr bisher eingebracht, dass sie stets versucht hatte, zwischen allen Parteien zu vermitteln? Jetzt war sie diejenige, die durch den Schmutz gezogen wurde.
«Es interessiert mich nicht, was seine Frau sagt», erklärte Anne. «Ich liebe ihn, und er liebt mich. Wer weiß, vielleicht lässt er sich von ihr scheiden.»
«Das wird er nicht tun.»
«Für mich würde er alles tun.»
«Anne!» Beatrix atmete tief durch. Wie sollte sie ruhig bleiben, wenn ihre Schwester so uneinsichtig blieb? «Bitte. Lass es gut sein. Ich werde nicht mehr vermittelnd einstehen können für dich.»
«Warum nicht? Was habe ich dir getan? Warum stellst du dich gegen unsere Liebe?»
«Weil sie unmöglich ist. Es passiert oft, dass eine Liebe keinen Platz hat in der Welt.»
«So wie Trisk und du? Damals hast du behauptet, ihn aus Liebe zu heiraten.»
«So wie Trisk und ich. Ja.» Für diese Liebe zahlte sie jeden Tag aufs Neue einen hohen Preis. Aber es änderte nichts an den Tatsachen. Sie liebte Henry Trisk, ihren Henry, und um nichts in der Welt wollte sie anders leben. Er betrog sie, und im Moment existierte sie nicht für ihn. Aber Liebe ließ sich davon nicht schrecken. Sie führte ihr eigenes Leben, hatte einen großen Freundeskreis, und sicher, wenn sie gewollt hätte, wäre der eine oder andere Freund einer Affäre mit ihr nicht abgeneigt gewesen. Dass man ausgerechnet sie, die wahrhaft treue Ehefrau eines notorischen Ehebrechers, jetzt mit so viel Häme und Spott, mit so viel Hass und Abscheu überzog, verletzte sie zutiefst. Am schlimmsten war aber Trisks Ablehnung.
«Ich werde dir in den nächsten Monaten Geld schicken. Viel ist es nicht, es kommt aus meiner privaten Schatulle.» Trisk war bisher immer sehr
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