Der vergessene Strand
du aber dauerhaft drin wohnen willst, musst du es winterfest machen.»
«Ja», sagte sie und kam sich irgendwie verloren vor. Das Leben bot ihr eine neue Möglichkeit, und diese Möglichkeit überforderte sie.
«David wird’s freuen.»
«Hast du noch Kontakt zu ihm?»
Jonathan wollte sich gerade wieder setzen. Er verharrte in der Bewegung, dann sank er nach vorne und nickte. «Schon. Manchmal.»
«Ich würde so gern mehr über ihn erfahren. Darüber, was damals passiert ist.»
«Warum?»
«Weil ich mich an nichts erinnern kann. Ich glaube, ich kann mich selbst nicht verstehen, solange ich nicht weiß, warum meine Eltern sich damals getrennt haben.»
«Sie hatten ihre Gründe dafür», sagte Jonathan barsch. «Steht mir nicht zu, mich einzumischen. Wir alle haben damals gelitten, wir alle haben Fehler gemacht. Die einen mehr, die anderen weniger.»
«Ich möchte meinen Vater kennenlernen. Bitte, ist das denn so verwerflich?» Sie wusste, jetzt klang sie verzweifelt.
Jonathans Kopf ruckte hoch. «Nein», erwiderte er harsch. «Ich glaube, das willst du nicht.»
«Aber …»
«Genug jetzt. Ich bin gern bereit, dir von unserer Familie zu erzählen, du kannst in Familienalben blättern, meinetwegen. Aber ich werde keine Fragen über deinen Vater beantworten, verstanden?»
Amelie starrte ihn verblüfft an. Als hätte sie einen falschen Knopf gedrückt, so ging er förmlich in die Luft.
«Aber …»
«Schluss! Keine Fragen!»
Sie fügte sich. «Okay», flüsterte sie.
Das Schweigen, das sich danach zwischen ihnen ausdehnte, schien auch Jonathan unangenehm zu sein. «Warte hier.»
Er verschwand im Wohnzimmer, und sie hörte, wie er einen Schrank öffnete, eine Schublade herauszog und darin kramte. Durch die halboffene Tür konnte sie nur wenig sehen – Bücherregale, einen offenen Kamin. Zwei Sessel.
«Da hab ich’s.» Er kam mit einem schwarzen Album zurück und legte es auf den Tisch. «Das Album der Familien Bowden seit 1900 .»
Er wollte sie ablenken, das war ihr klar. Von den Fragen nach ihrem Vater, die ihr auf der Zunge brannten. Von der Vergangenheit, über die er partout nicht sprechen wollte.
Vielleicht änderte sich das. Vielleicht mussten sie einander erst vertrauen, ehe sie einen weiteren Vorstoß wagen konnte.
«Deine Urururgroßmutter», sagte Jonathan beim ersten Foto. «Das muss 1905 gewesen sein oder kurz davor. Das kleine Mädchen neben ihr ist deine Ururgroßmutter Antonia. Die Kapitänsfrau. Mutter der Schäfersfrau.»
Amelie studierte das Bild. Eine kleine, kompakte Frau mit breiten Hüften und einem schmalen Gesicht. Auf dem Foto trug sie ein schwarzes Kleid und jenen Ernst zur Schau, den Amelie von den Fotos jener Zeit so gut kannte. Zuletzt hatte Anne Lambton sie so angestarrt, aus einem anderen Jahrhundert.
Das Mädchen war niedlich: weißes Kleidchen, riesige Schleife im blonden Haar. Es ähnelte der Mutter kaum, nur der ernsthafte Gesichtsausdruck war gleich. «Hübsch», kommentierte Amelie, weil sie nicht wusste, was man sonst zu solchen Bildern sagte.
«Das Hochzeitsfoto. Dein Ururgroßvater Reginald.» Jonathan tippte auf einen gestrengen Mann in Offiziersuniform und mit Schnauzbart. Daneben saß wieder ihre Ururgroßmutter, diesmal in einem hellen Kleid, die Hände brav im Schoß gefaltet. Beide lächelten nicht – aber das musste nichts heißen.
«Waren sie glücklich?», fragte Amelie.
«So glücklich, wie ein Bowden eben sein kann», erklärte Jonathan.
«Hm», machte Amelie, und sie dachte an ihr eigenes Dilemma. Wenn man’s genau nahm, war sie ja auch eine Bowden.
«Das Leben war hart hier in Wales. Früher. Es hört keiner gern, aber im Grunde haben wir’s heute doch gut.» Jonathan blätterte weiter. «Dein Urgroßvater. Mein Vater David.»
Namen hatten in dieser Familie Tradition, dachte Amelie. Urgroßvater David trug Uniform.
«Er war bei der Bergbaupolizei. Guter Job, bloß musste er dafür immer in den Norden. Hat meine Mutter oft allein gelassen mit den fünf Kindern. Konnte aber seine Geschwister nach dem Tod der Eltern ausbezahlen. Meine Eltern hatten kein schlechtes Leben.»
Noch etwas über die Bowdens: Sie vermehrten sich offenbar wie die Karnickel, die am Strand die Hügel unterhöhlten.
Das nächste Foto zeigte die Kinder. Wie die Orgelpfeifen standen sie aufgereiht, die beiden ältesten Brüder lachten in die Kamera, die einzige Schwester blickte ernst und fast verschüchtert. Daneben ein kleines Kind, keine drei Jahre alt. Und
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