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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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mit Büchern, sondern mit verschlossenen Kästen und Schatullen gefüllt waren. Eine Schatulle trug er zu dem kleinen runden Tisch in einer Ecke des Raumes und öffnete sie. Darin lag auf Seidenpapier gebettet ein einzelnes, sehr alt aussehendes Buch. Der Deckel des Einbandes bestand aus einer Silberplatte mit eingefassten Juwelen und farbigen Steinen, und die Ränder der Seiten waren schwarz vom Alter. Auf dem Papier um den Kodex herum lagen Krümel – Leder, das von dem Buchrücken abgebröckelt war. Marina schlug es ehrfürchtig auf.
    Der Priester-Bibliothekar weigerte sich, sie allein zu lassen. Stattdessen wartete er, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Die Seiten waren braun und spröde, sodass Marina bei jedem Umblättern fürchtete, das Papier könne brechen. Sobald sie die gesuchte Stelle gefunden und abgeschrieben hatte, nahm der Priester das Buch wieder an sich und verschloss es sicher in seiner Schatulle.
    Zurück in dem Saal mit den Lesetischen, zog Marina weitere Bücher aus den Regalen und begann sie zu studieren. Sie arbeitete zielstrebig und konzentriert und genoss es, nicht gestört zu werden. Nach so vielen Tagen in der erdrückenden Gesellschaft der Männer hatte sie endlich wieder das Gefühl, frei atmen zu können. Sie wusste, wie Muir und Jackson über sie dachten, welchen Verdacht sie gegen sie hegten, und sie war es leid, ständig ihren argwöhnischen Blicken und ihrem höhnischen Grinsen ausgesetzt zu sein. Diese Leute hatten etwas unangenehm Männliches an sich. Selbst Reed, den sie sehr schätzte, konnte einem auf die Nerven gehen. Und was Grant betraf … Sie schlug unter dem Tisch die Beine übereinander und wandte sich wieder ihrem Buch zu. Grant war ein viel zu kompliziertes Thema. Über ihn konnte sie hier und jetzt nicht nachdenken.
    Sie war beinahe fertig, als der Priester, der sie hereingelassen hatte, den Saal betrat und schlurfend an ihren Tisch kam. «Da ist ein Mann am Tor, der Sie sprechen möchte», flüsterte er. « Ho Kyrios Grant.»
    Marina stutzte – wie hatte er herausgefunden, wo sie war? «Hat er gesagt, was er will?»
    Der Priester schüttelte den Kopf. «Er sagte nur, es sei dringend.»
    Marina warf einen Blick auf die Bücher auf ihrem Tisch. In fünf Minuten würde sie hier fertig sein – vielleicht sollte sie ihn einfach warten lassen. Andererseits, wenn Grant gesagt hatte, es sei dringend …
    Sie stand auf und ließ ihre Bücher liegen. «Ich komme gleich wieder», sagte sie zu dem Bibliothekar, ehe sie hinausging.

    Grant wusste nicht, was ihn geweckt hatte – er hatte nicht einmal bemerkt, dass er schläfrig wurde. Sein Hemd war feucht von Schweiß, und er hatte einen säuerlichen Geschmack im Mund. Gierig trank er Wasser aus dem Glas auf seinem Nachttisch, obwohl es abgestanden und die Oberfläche staubig war.
    Noch im Halbschlaf warf er einen Blick auf die Uhr: schon vier. Eine drückende Nachmittagsstille lastete über dem Hotel, und draußen schienen sich selbst die Muezzins ein Nickerchen zu gönnen.
    Grant stutzte und schaute noch einmal auf die Uhr. Wo blieb Marina so lange? Sie hatte angekündigt, zum Mittagessen zurück zu sein. Er setzte sich auf und sah sich im Zimmer um. Ihre Sachen lagen alle noch am selben Platz wie vorhin, außerdem hätte er gehört, wenn sie hereingekommen wäre.
    Er zog seine Schuhe an, ging hinaus auf den Flur und klopfte an Reeds Tür. Ungeduldig wartete er auf eine Reaktion. Je länger das Schweigen andauerte, umso größer wurde seine Anspannung. Was war nur aus den anderen geworden? Er probierte die Klinke – nicht abgeschlossen – und öffnete die Tür.
    Das Zimmer sah aus, als hätte ein Wahnsinniger hier gewütet. Überall lagen Bücher und Papiere verstreut, dazwischen achtlos hingeworfene Kleidungsstücke, Schuhe und halbleere Teegläser. Grant hatte keine Ahnung gehabt, dass Reed überhaupt so viel Gepäck besaß. Die Vorhänge waren noch zugezogen, sodass ein bernsteinfarbenes Dämmerlicht das Zimmer erfüllte. Und da, inmitten des Durcheinanders, saß Reed im Schneidersitz auf dem Bett, mit einem seidenen Morgenrock bekleidet.
    Er hob den Blick, blinzelte und rieb seine Brille mit dem Gürtel des Morgenrocks. «Grant? Entschuldigung – aber Sie hätten anklopfen sollen.»
    «Das habe ich.» Grant stieg vorsichtig durch das Chaos und setzte sich auf eine freie Ecke des Bettes. «Haben Sie Marina gesehen?»
    Reed warf einen letzten Blick auf die Unterlagen, die er gerade studiert hatte, dann ließ er

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