Der vergessene Tempel
in Dunkelheit versinken, wie die wechselnden Phasen des Mondes. Solowjew starrte aufs Meer hinaus, als könne er in den ruhigen Wellen Trost finden. Stattdessen entdeckte er zu seinem grenzenlosen Entsetzen etwas, das wie das Flugboot des Obersts aussah. Es glitt durch das Wasser – nicht im Hafen, wo es sein sollte, sondern weit entfernt an der äußersten nordöstlichen Spitze der Insel. Dem Leutnant wurden die Knie weich, und er musste sich auf den Fenstersims stützen. Als der Schein des Leuchtfeuers die Maschine das nächste Mal streifte, erhob sie sich gerade in die Luft, und das Wasser strömte von den Schwimmern. Bei der dritten Umdrehung der Blende nahm es Kurs nach Westen. Bei der vierten war es verschwunden.
Das sowjetische Flugzeug stieg über die Wolken auf. Grant, der bis dahin angestrengt auf die unbekannten Instrumente gestarrt hatte, entspannte sich und lehnte sich in seinem Sitz zurück. Jackson kam zu ihm nach vorn und tippte ihm auf die Schulter. Da der Motor sich kaum mehr als einen halben Meter über ihren Köpfen befand, war der Lärm in der Kabine ohrenbetäubend. «Wohin fliegen wir?», schrie Jackson ihm ins Ohr.
Grant zuckte die Schultern und deutete auf die Treibstoffanzeige. «Bis nach Athen reicht der Sprit nicht.»
«Dann müssen wir Istanbul ansteuern. Das ist der nächste sichere Hafen.»
«Und dann?» Grant warf einen Blick auf den Kompass und bewegte das Steuerruder ein wenig, um den Kurs zu korrigieren.
«Dann finden wir heraus, was aus dem Schild geworden ist. Und hoffen inständig, dass Muir nicht den Kommies in die Hände gefallen ist.»
ACHTUNDZWANZIG
Istanbul. Am nächsten Morgen
Ein markerschütternder Schrei riss Grant aus dem Schlaf. Er saß bereits aufrecht im Bett und hatte den Webley entsichert, ehe ihm klar wurde, was das war: der Ruf des Muezzins, der verträumt und geheimnisvoll durch die dünnen Vorhänge hereindrang. Der Ruf pflanzte sich über die gesamte Stadt fort wie Vogelgesang, und bald erscholl er im Chor von allen Minaretten.
Marina, die eingerollt neben ihm lag, schlang einen Arm um seine Brust und schmiegte sich an ihn. Sie war nackt. Ihr zerzaustes Haar breitete sich über das Kissen; sie hatte die Augen geschlossen und ihre nackten Beine um seine gelegt. Grant streichelte ihre Schulter. Eine Weile lang lag er so da und nahm die Klänge in sich auf, die exotischen Gerüche nach Gewürzen und Staub, die durch das offene Fenster hereinwehten.
Marinas Hand bewegte sich abwärts. Ihre Finger glitten über die straffen Muskeln an seinem Bauch, dann tiefer. Grant spannte sich an. Sanft drehte er sie auf den Rücken und schob sich über sie. Er stützte sich mit den Armen auf, um ihr ins Gesicht sehen zu können, in die verschlafenen Augen, die sich langsam mit einem verzückten Ausdruck öffneten. Er küsste sie.
Als Grant aus dem Bad kam, war Marina bereits angezogen. «Ich gehe in die Bibliothek. Sourcelles hat etwas erwähnt, dem ich nachgehen will, und ich nehme an, sie haben dort eine Suda .»
Grant sparte sich die Frage, wer oder was eine Suda sei. «Ich komme mit.»
«Nein. Du bleibst bei Reed, er braucht Schutz. Ich glaube, er steht kurz vor einem Durchbruch.»
Grant machte ein skeptisches Gesicht. «Wirklich? Alles, was ich bisher gesehen habe, war Gekritzel. Ich dachte, er kommt nicht von der Stelle.»
«Du verstehst eben nicht, wie er arbeitet. Stell dir die Sprache als eine Nuss vor, die er zu knacken versucht. Die ganze Zeit über hat er sie in der Hand gehalten, sie untersucht, von allen Seiten angeschaut, daran geklopft, um zu hören, wie sie klingt. Man könnte denken, das alles führt zu nichts. Aber dann, ganz plötzlich, klopft er genau an der richtigen Stelle, und die Schale springt einfach auf.»
«Ich finde trotzdem, du solltest nicht allein losziehen», beharrte Grant.
Sie warf ihm einen Handkuss zu. «Bis zum Mittagessen bin ich zurück.»
Grant traf Jackson bei einem späten Frühstück im Restaurant des Hotels an. Das Essen war karg – salziger Käse, salzige Oliven, salziges Brot und ein hartgekochtes Ei –, aber immerhin gab es starken Kaffee. Grant trank zwei Tassen.
«Gut geschlafen?», erkundigte sich Jackson. Er blickte von dem Ei auf, das er gerade köpfte, und zog vielsagend eine Augenbraue hoch. Dasselbe hatte er getan, als Grant und Marina sich in der vergangenen Nacht ein gemeinsames Zimmer nahmen. Hatte er sie heute Morgen durch die dünne Wand gehört? Grant scherte sich nicht darum.
«Wie die
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