Der vergessene Tempel
das Tor und führte sie über den Hof in den Saal mit der Kuppel und den Bücherregalen. Marinas Tasche hing über der Stuhllehne, und auf dem Tisch davor lag ein einziges Buch. Zwischen den Seiten ragte ein kleiner Zettel heraus.
Grant griff hastig danach. Der Titel war auf Französisch, doch der Name auf dem Deckel sprang ihm sofort entgegen. «Es ist das Buch von Sourcelles. Sie hat vorhin gesagt, sie interessiere sich für etwas, das er erwähnt hatte.» Grant schlug das Buch an der Stelle auf, wo der Zettel steckte. Ein Satz fiel ihm sofort ins Auge, denn sie hatte einen Teil davon mit Bleistift unterstrichen. Grant zeigte die Textstelle Reed, der sie aus dem Französischen übersetzte:
Über diesen Aspekt äußert sich der häufig vernachlässigte Philostratos von Lemnos besonders ausführlich.
«Wer ist Philostratos von Lemnos?»
Grant hatte sich mittlerweile so sehr daran gewöhnt, dass Reed auf jede seiner Fragen eine Antwort parat hatte, die er je nach Stimmungslage manchmal nachsichtig lächelnd, manchmal mit einem ungeduldigen Unterton vorbrachte, dass es für ihn zur Selbstverständlichkeit geworden war. Er war längst zu dem Schluss gekommen, der Professor sei praktisch unfehlbar, eine wandelnde Enzyklopädie der Altertumswissenschaft.
Doch statt einer Antwort schürzte Reed die Lippen und machte ein ratloses Gesicht. «Philostratos», wiederholte er. «Soweit ich weiß, ein eher unbedeutender Philosoph des 3. Jahrhunderts. Diese Periode ist nicht gerade mein Fachgebiet – ich meine mich allerdings zu erinnern, dass er eine Biographie über Apollonios von Rhodos verfasst hat, von dem wiederum die bedeutendste dichterische Bearbeitung des Stoffes von Jason und den Argonauten stammt. Wahrscheinlich brauchte Marina deshalb die Suda – um ihn nachzuschlagen.»
Grant ballte die Faust in dem Bemühen, sich zu beherrschen. «Tja, der wird sie wohl kaum entführt haben.»
«Wenn er von Lemnos stammte, könnte er etwas über den Hephaistos-Kult gewusst haben.»
Sie suchten nach dem Bibliothekar. Er schien zuerst skeptisch, doch Reed konnte ihn mit ein paar scharfen Worten dazu bewegen, die schwere Tür aufzuschließen und sie in die unterirdische Schatzkammer zu führen. Er öffnete die Schatulle und legte das brüchige Buch auf den Tisch.
Mit zitternden Händen berührte Reed den silbernen Deckel. «Die junge Frau, die heute Morgen hier war – hat sie in diesem Buch gelesen?»
Der Bibliothekar nickte stumm, wobei sein buschiger Bart in der Dunkelheit zu schweben schien. Reed schlug die steifen Seiten um; Grant staunte über die winzige Schrift, die ordentlich war wie gedruckt.
«Da haben wir es.»
Philostratos. Sohn von Philostratos Verus, dem Sophisten von Lemnos. Er wirkte als Sophist in Athen, später dann in Rom, als Severus Kaiser war, bis er zur Regierungszeit von Philippus Arabs starb. Werke: Deklamationes; Eikones (vier Bücher); Marktplatz; Heroikos; Dialoge; Ziegen oder Über die Pfeife; Das Leben des Apollonios von Rhodos (acht Bücher); Epigramme und weitere.
«Heroikos», wiederholte Reed. « Über die Heroen. Kennen Sie dieses Werk?»
Der Bibliothekar nickte. Wortlos nahm er die Suda und legte sie wieder in ihre Schatulle, dann verließ er mit langen Schritten den Archivraum. Sie folgten ihm zurück nach oben in den Lesesaal. Er ging nicht an die Regale, sondern kehrte an sein Pult zurück. Daneben stand ein hölzerner Rollwagen, beladen mit Büchern, die darauf warteten, wieder an ihren Platz gestellt zu werden. Der Bibliothekar zog aus einem Stapel eins der obersten heraus, einen schmalen, rot-schwarzen Band, und reichte ihn Reed.
Als dieser ihn aufschlug, stieg Grant plötzlich ein Duft nach Mandel und Rose in die Nase, eine Blume in der staubigen Wüste der Bibliothek. «Marina muss darin gelesen haben», sagte er und stellte sich vor, wie ihr parfümiertes Handgelenk beim Umblättern die Seitenränder streifte. «Was ist das?»
Reed zog sich einen Stuhl heran, setzte sich an einen der Tische und überflog die Seiten. Grant versuchte, die verzweifelte Ungeduld, die in ihm brodelte, zu unterdrücken.
«Es ist ein Bericht über den Trojanischen Krieg.» Reed blickte auf. «Der Autor verwendet ein Stilmittel, das für die Dichtung jener Zeit typisch ist: Der Geist einer Nebenfigur aus der Ilias taucht auf und erzählt einem erschöpften Reisenden, was bei Homer alles falsch berichtet ist. Solche Texte bilden in der Spätantike praktisch eine eigene literarische
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