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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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Stadt wohl ein Blick auf fünfhundert Jahre Niedergang war.
    Zu ihrer Überraschung stellte sich heraus, dass die Bibliothek in dem Kirchengebäude untergebracht war, das sie bereits von der Straße aus gesehen hatte. Ihr Erstaunen war dem Priester nicht entgangen, und er schenkte ihr ein zahnloses Lächeln.
    «Nach der osmanischen Invasion haben die Eroberer verboten, das Gebäude weiterhin für religiöse Zwecke zu nutzen. Seine Heiligkeit der Patriarch beschloss daraufhin, es würde der Weisheit am besten dienen, wenn man daraus eine Bibliothek machte.»
    Ein leichter Schauder überlief Marina, als sie durch das Portal und vorbei an den goldenen Blicken der Heiligenmosaike in den dämmrigen Saal trat. Entlang den Wänden und in den Zwischenräumen zwischen den Säulen, die das Gewölbe trugen, standen hölzerne Regale, deren Bretter sich unter der Last der Bücher durchbogen. In der Mitte des Raumes, unter der Kuppel, waren lackierte Pulte kreuzförmig angeordnet. Marina setzte sich ans vordere Ende, so nahe wie möglich bei der Tür, und zog Sourcelles’ Monographie aus der Tasche. Sie blätterte darin, ohne sich selbst ganz darüber im Klaren zu sein, wonach sie suchte – sie wusste, wenn sie es sah, würde sie es erkennen.
 
Ebenso wie der Held selbst präsentiert sich auch die Weiße Insel jenen, die sie zu ergründen versuchen, in einer verstörenden Dualität. Einerseits umfasst sie einen guten, geradezu himmlischen Aspekt, sie ist ein «heiliger Hafen», sowohl im wörtlichen als auch im metaphorischen Sinne. Bei Arrianos finden wir Berichte darüber, dass Achilleus den Seefahrern auf vorbeiziehenden Schiffen im Traum erschien und sie zu der Insel führte, zu den «günstigsten Anlegestellen, den sichersten Ankerplätzen». Auf der Insel selbst sollen, so die Überlieferung der Legende durch Arrianos und Philostratos, die Seevögel, die es dort in Scharen gab, den Tempel mit ihren Flügeln gesäubert haben; dem steht allerdings eine Stelle bei Plinius (NH X, 78) entgegen, wo es heißt, «kein Vogel fliegt über den Tempel des Achilleus, auf der Insel im Schwarzen Meer, wo er begraben liegt». Des Weiteren geben beide Autoren die Vorstellung wieder, die Tiere auf der Insel hätten sich am Tempel des Achilleus willig opfern lassen; sie hätten friedlich vor dem Tempel gestanden und ihren Hals dem Messer dargeboten (die Vorstellung vom «willigen Opfer» ist natürlich von alters her bis in die Moderne für die religiöse Eschatologie von fundamentaler Bedeutung). Das entstehende Gesamtbild ist eines von Ordnung und Harmonie, ein paradiesisches (oder genauer, hesperidisches) Idyll, in dem Mensch, Natur und die Götter in völliger Einfühlung in die Bedürfnisse der jeweils anderen leben.
Dennoch gibt es, wie es einem liminalen Ort am fremden, entlegensten Rand der Welt gebührt, eine Schlange in diesem Garten Eden (im wörtlichen Sinne, wenn wir den Bericht von Kapitänleutnant N. D. Kritskij über seinen Besuch auf Ostrov Zmeinyj im Jahre 1823 in Betracht ziehen); eine Aura der Gefahr liegt über der Weißen Insel. Über diesen Aspekt äußert sich der häufig vernachlässigte Philostratos von Lemnos besonders ausführlich. Er berichtet von seltsamen Lauten, die Seeleute von der Insel hörten: mächtige Stimmen, die sie «vor Angst erstarren ließen»; auch Schlachtenlärm wie von Waffen, Rüstungen und Pferden. Er gibt an, kein Mensch habe nach Sonnenuntergang auf der Insel verweilen dürfen. Ein besonders grausiges Detail seiner Ausführungen ist die Geschichte des reisenden Händlers, der auf Achilleus’ Geheiß diesem ein Sklavenmädchen bringt. Man stelle sich das Entsetzen des Mannes vor, als er, nachdem er geglaubt hatte, sie solle nur der sexuellen Befriedigung dienen, später ihre Schreie hörte: Der rachedurstige Held riss ihr die Glieder einzeln vom Leib und verschlang sie. Für Götter und Heroen mag die Weiße Insel ein Paradies des Lichtes sein, für sterbliche Menschen hingegen ist sie ein Ort der Grausamkeit und Düsternis, an den man sich nicht leichtfertig begibt.
 
    Marina unterstrich mit Bleistift ein paar Wörter, dann machte sie sich auf die Suche nach dem Bibliothekar, der ebenfalls ein Priester war. Es erforderte einige Überredungskunst, bis er sich bereit erklärte, ihr zu helfen, doch schließlich gab er nach. Er führte sie eine lange Treppe hinunter und durch einen dunklen Gang in die Kellergewölbe der alten Kirche, zu einem verschlossenen Raum, in dem die Regale nicht

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