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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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Untergattung. Was diesen für uns besonders beachtenswert macht, ist die Tatsache, dass der Autor außergewöhnlich gut mit dem lemnischen Hephaistos-Kult vertraut war.»
    Er lächelte schwach, als er Grants Gesichtsausdruck sah. «Sie haben es bereits erraten: Laut der Einleitung war Philostratos selbst ein Priester im Hephaistos-Kult auf Lemnos.» Reed nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. «Er muss besser als irgendjemand sonst über die Geschichte des Kultes und seine tiefsten Geheimnisse Bescheid gewusst haben. Tatsächlich scheint es eine ganze Anhängerschaft zu geben, die davon ausgeht, in dem Werk wimmele es von mystischen Doppelbedeutungen, die nur Eingeweihte des Kultes erfassen können: geheime Worte, die dem Laien völlig harmlos erscheinen. Aber eins an dem Text ist besonders bemerkenswert. Hier heißt es tatsächlich:
     
Die Weiße Insel liegt im Schwarzen Meer, an der unwirtlichen Seite, die, wenn man durch die Meerenge hineinfährt, zur Linken liegt. Ihre Länge beträgt dreißig Stadien, die Breite jedoch nicht mehr als vier. Sowohl Pappeln als auch Ulmen wachsen darauf: Manche wild, andere hingegen sind künstlich um den Tempel gepflanzt. Der Tempel ist nahe der Maiotis gelegen (die in das Schwarze Meer fließt), und die Statuen darin, von den Moiren geschaffen, stellen Achilleus und Helena dar.
     
    «Wo ist die Maiotis?»
    «Maiotis war der griechische Name für das, was wir heute das Asowsche Meer nennen.» Reed stand auf und holte einen Atlas aus dem Regal. Allerdings glich dieses Buch ganz und gar nicht den Atlanten, die Grant kannte. Die Kartographen schienen sämtlich betrunken gewesen zu sein: All die vertrauten Umrisse waren verzerrt, und selbst Orte, die er erkannte, waren mit unbekannten Namen bezeichnet. Italien war nicht der langgestreckte Stiefel mit dem hohen Absatz wie auf modernen Landkarten, sondern ein kurzer, klobiger Arbeitsstiefel. Das war nicht die Welt, wie sie tatsächlich war, sondern die Welt, wie die Menschen sie früher einmal gesehen hatten.
    Als Reed weiterblätterte, wurden die Konturen allmählich klarer und präziser; die Küsten bekamen Buchten und Flussmündungen, und die amöbischen Kontinente entwickelten Gerippe, Anhängsel, Gliedmaßen. Die Karten waren jetzt nicht mehr von Hand gezeichnet, sondern gedruckt und ihre Formen als die neuzeitliche Welt erkennbar. Die Namen hingegen waren noch immer unbekannt und fremdsprachig.
    «Da haben wir es.»
    Die Karte aus dem Jahr 1729 stellte den Ostteil des Schwarzen Meeres dar. Reed zeigte auf die Stelle, wo das Asowsche Meer an das Schwarze Meer grenzte. «Der Kimmerische Bosporos.» Er schüttelte den Kopf, als hadere er mit sich selbst wegen irgendeines Fehlers oder Irrtums, von dem nur er selbst wusste.
Und die Sonne sank, und Dunkel umhüllte die Pfade.
Jetzo erreichten wir des tiefen Oceans Ende.
Allda liegt das Land und die Stadt der kimmerischen Männer.
Diese tappen beständig in Nacht und Nebel; und niemals
Schauet strahlend auf sie der Gott der leuchtenden Sonne …
    «Als Odysseus sich mit seinem Schiff auf die Suche nach der Pforte des Hades macht, ist Kimmeria das letzte Land, an dem er vorbeisegelt, ehe er den Okeanos überquert. Nun, die alten Griechen glaubten, die Kimmerier seien ein reales Volk gewesen, das bis in die historische Zeit überdauerte. Laut Herodot lebten sie am nordöstlichen Rand des Schwarzen Meeres. Er sagt, sie seien alle von nachfolgenden Invasoren niedergemetzelt worden, aber ihr Name lebte fort in …»
    «… Ortsnamen», ergänzte Grant, der sich erinnerte. «Die sterben immer als Letzte aus.»
    «Daher der Kimmerische Bosporos. Der Euxinische Bosporos – heute der Bosporos – führte vom Marmarameer und der Ägäis ins Schwarze Meer; am entgegengesetzten Ende führte der Kimmerische Bosporos hinaus ins Asowsche Meer. Soweit ich weiß, wird diese Stelle heute als die Meerenge von Kerc bezeichnet.»
    «Und Sie denken, das ist es, was Marina herausgefunden hat: dass die Weiße Insel irgendwo dort liegt?»
    «So schreibt es Philostratos – und die Odyssee stimmt mit ihm überein.»
    Grant betrachtete die Karte. «Aber in der Gegend gibt es gar keine Inseln.»
    Von Frust und Enttäuschung überwältigt, schlug er das Buch plötzlich zu. «Mist.» Über den Bemühungen, herauszufinden, woran Marina gearbeitet hatte, war es ihm für eine Weile gelungen, das Gefühl der Hilflosigkeit zu unterdrücken. Jetzt steckten sie wieder einmal in einer Sackgasse. «Wir müssen sie

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