Der vergessene Tempel
drang von draußen das Geräusch herabprasselnder Steine herein – dann der unverwechselbare Klang einer Stimme, die auf Englisch vor sich hin fluchte. Grant richtete den Webley auf die Türöffnung. Er hörte Kratzgeräusche und halblaute Verwünschungen, als jemand sich durch den engen Spalt zu zwängen versuchte, dann leise Schritte. Sein Finger krümmte sich um den Abzug.
Der schwache Strahl einer Taschenlampe drang in den finsteren Raum, huschte wie eine Motte vom Boden zur Wand zur Decke und blieb dann an Grants Revolver hängen.
«Ich hoffe doch mal, Sie haben nicht vor, mich damit zu erschießen, verflucht.»
SECHS
Grant ließ seine Waffe nicht sinken. Der Neuankömmling ließ sich davon nicht schrecken, trat geduckt in die Kammer und blieb vor der Tür stehen, kaum mehr als ein Umriss vor dem schwachen Tageslicht, das hinter ihm hereindrang.
«Wer ist das?», fragte Marina.
«Ich habe mich wohl letztes Mal nicht vorgestellt.» Der Mann richtete die Taschenlampe nach oben auf sich, sodass raspelkurz geschorenes rotes Haar, ein dünnes Schnurrbärtchen und ein schmales, spitzes Gesicht zu erkennen waren. «Muir.» Er streckte nicht die Hand aus. «Grant und ich sind uns schon begegnet. Und Sie müssen Marina Papagiannopoulou sein. Uns – und auch den Deutschen, als die hier noch im Geschäft waren – besser bekannt unter dem Namen Athena.»
«Offenbar sind Sie sehr gut informiert.»
«Ich habe Ihre Großtaten mit Interesse verfolgt. Und die letzten drei Tage mit noch größerem Interesse.» Er gluckste. «Sie haben es uns nicht leichtgemacht. Als Sie sich aus Archanes weggeschlichen haben, hätten wir Sie fast verloren.»
«Vielleicht hätten Sie nicht Ihre Männer fürs Grobe vorbeischicken sollen.»
Muir hob abwehrend die Hände. «Damit habe ich nichts zu tun.»
«Wer waren die dann?»
«Konkurrenten. Die …»
Ein wahrhaft markerschütterndes Niesen drang aus dem Gang hinter Muir. Er warf sich auf die Seite des Raums – gerade noch rechtzeitig, als die Kammer vom donnernden Brüllen des Webley widerhallte.
«Menschenskind, verflucht nochmal», sagte Muir. «Mit dem Ding sollten Sie vorsichtig sein.»
Den Knall des Revolvers noch im Ohr, hörte Grant eine Stimme, die vor Angst bebend den Gang entlangrief: «Nicht schießen!»
Grant richtete die Waffe wieder auf Muir. «Nur einen Schritt näher, und Mr. Muirs Hirn spritzt hier an die Wände», rief er in den Gang. Dann wandte er sich an Muir: «Wen haben Sie da noch mitgebracht?»
Muir war die Taschenlampe aus der Hand gefallen, doch sie verbreitete in dem kleinen Raum noch genug Licht, um die Blässe seines Gesichts zu erhellen. «Niemand, dessentwegen Sie sich Sorgen machen müssten.»
Grant zögerte kurz und fasste dann einen Entschluss. «Lassen Sie Ihre Waffe fallen und kommen Sie langsam auf mich zu.»
«Ich habe keine Waffe», beteuerte die ängstliche Stimme. «Soll ich …»
«Kommen Sie einfach her.»
Marina hob die Taschenlampe auf und richtete sie in den Gang. Ein Husten war zu hören, das Scharren von Leder über Stein. Heftig blinzelnd, die Arme so hoch erhoben, wie es die niedrige Decke zuließ, trat er ins Licht. Ein schneeweißer Haarschopf umrahmte ein rundes Gesicht voller Falten und doch seltsam jugendlich, Wangen und Nase rot verbrannt von der Sonne. Ein Paar blassblauer Augen spähte unter zwei beeindruckend buschigen weißen Brauen hervor – ängstlich zunächst, doch bald voller Staunen, während er gemächlich seine Umgebung musterte. «Bemerkenswert», hauchte er.
Die Stimmung im Raum hatte sich verändert, eine Art Ruhe hatte sich herabgesenkt. Grant merkte, wie ihm die Kontrolle entglitt. «Wer ist das?», fragte er und stieß Muir den Webley entgegen.
«Er heißt Arthur Reed. Professor für klassische Philologie in Oxford.»
«Darf ich?» Reed streckte Marina die Hand entgegen. Völlig entwaffnet, ließ sie sich von ihm die Taschenlampe aus der Hand nehmen.
«Bemerkenswert», sagte er abermals, während er die Artefakte auf der Bank an der hinteren Wand betrachtete. «Das hier, nehme ich an, dürfte wohl eine Art Baityl sein.»
«Das war auch unsere Vermutung», sagte Grant. Auf einmal hatte er das Gefühl, sich um tadelloses Benehmen bemühen zu müssen – wie ein Junge, den man aus seinem Baumhaus geholt hat und nun dazu verdonnert, Tee mit einer entfernten Tante zu trinken.
Muir wollte in seine Jackentasche greifen, erstarrte, als er sah, wie Grant seinen Webley fester umfasste, und lachte
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