Der vergessene Tempel
Marina weiter den Webley auf Muir gerichtet. Trotz des Gewichts der Waffe zitterten ihre schlanken Arme nicht. Muir blickte zwischen den beiden hin und her. Irgendwelche Hoffnungen auf Flucht brauchte er sich nicht zu machen, das war ihren Gesichtern deutlich zu entnehmen.
Gemächlich zündete Muir sich eine weitere Zigarette an. In der warmen Nachmittagsluft schien jedes Geräusch unnatürlich verstärkt – das Klicken des Etuis, das Aufflammen des Phosphors, das Knacken, als Muir das Streichholz in der Mitte durchknickte. Ein Schatten huschte ihm übers Gesicht; ein Falke, der oben am Himmel schwebte.
«Na schön.» Er nahm einen tiefen Zug von der Zigarette und setzte dann ein grimmiges Lächeln auf. «Ich werde Ihnen verraten, soviel ich kann.»
«Ich hoffe sehr für Sie, dass das genug ist.»
Muir zog ein paar Fotos aus seiner Hemdtasche und reichte Grant eins davon.
«Sieht aus wie unser Täfelchen.»
«Das haben die Amerikaner in den letzten Kriegstagen in Deutschland aufgetan, in einem wissenschaftlichen Institut in Oranienburg, das sie eingenommen hatten.»
Grant zog eine Augenbraue hoch. «War das nicht im sowjetischen Sektor?»
«Es war ihnen gelungen, den Russen zuvorzukommen. Sie haben dort kistenweise Nazi-Dokumente und anderen Krempel gesichert – hauptsächlich Berichte, technische Unterlagen, lauter trockenen Mist. Jedenfalls musste sich das alles jemand ansehen. Sie haben also die Sachen rüber in die Staaten geschafft, damit sich irgendein Unterausschuss aus unwichtigen Leuten da durchwühlen und ihnen bestätigen konnte, dass kein Grund zur Sorge bestand. Das Ganze geriet in Vergessenheit. Aus Deutschland kam so viel ans Licht, und da wollte keiner seine Zeit damit verbringen, sich in die dunklen alten Tage zu versenken. Diese Experten aber kämpften sich weiter durch das Material, und vor ein paar Monaten sind sie auf etwas Interessantes gestoßen.»
«Auf dieses Foto?»
«Es befand sich in einem gewöhnlichen Aktenkarton – ungewöhnlich allerdings war, dass sich außerdem noch eine Blechflasche darin befand. Und in der Flasche befand sich ein Stück Metall, etwa von der Größe eines Golfballs. Man wusste nicht, worum es sich handelte, deshalb wurde es zur Analyse ins Labor geschickt. Und ihr Fund erwies sich als etwas, das noch nie jemandem untergekommen war.»
«Kommen Sie zur Sache.»
«Tja, es war noch nie jemandem untergekommen, also hatte es keinen Namen. Man taufte es Element 61.»
«Element 61?», wiederholte Grant. «Im Sinne von chemischem Element?»
«Genau. Das Periodensystem kennen Sie also. Nun, in diesem System existieren anscheinend Leerstellen. Es ist wie ein unvollständiges Kartenspiel – man weiß, welche Anzahl man haben sollte und wohin die fehlenden Karten gehören würden, und trotzdem fehlen einige. Genauso verhält es sich mit diesen Elementen. Die Wissenschaftler wissen, dass sie existieren müssen, und auch, wo sie hineinpassen würden, haben es aber bisher nicht geschafft, ihrer habhaft zu werden. Dieses Element 61 ist eines davon. Die Experten waren also naturgemäß ganz aus dem Häuschen und wollten wissen, wo dieser Brocken herstammt.»
«Ist es wertvoll?»
«Wertvoll?» Muir trat den Stummel seiner Zigarette unter dem Schuh aus und steckte sich eine neue an. «Es ist unbezahlbar, Scheiße. Es ist einzigartig. Nach dem, was man bisher weiß, kommt es auf der Erde nicht vor.»
Es blieb kurz still, während diese Information von allen verarbeitet wurde.
«Es stammt von einem Meteoriten», sagte Reed. Grant schaute ihn an und konnte sehen, dass dem Professor diese Geschichte ebenso neu war wie ihm und Marina.
«Richtig.» Muir schien erfreut. «Aber das ist noch nicht die ganze Geschichte. Werfen Sie mal einen Blick darauf.» Er reichte drei weitere Fotos herüber. «Das ist die Probe, die man gefunden hat. Von vorne, von oben und von unten. Fällt Ihnen etwas auf?»
Grant betrachtete die Bilder – ein glänzender Gesteinsklumpen, angeleuchtet auf einem dunklen Stück Stoff. Von oben und von der Seite wirkte er glatt, gesprenkelt mit winzigen Kratern, wie gehämmertes Gold. Das dritte Bild aber war anders: Hier war die Oberfläche fast eben, von einer Reihe senkrechter Linien in eine Abfolge von Graten gekerbt.
«Sieht aus, als wäre es durchgeschnitten worden.»
«Die Linien, die Sie da sehen, stammen von einem Sägeblatt. Das Stück, das man in Deutschland gefunden hat, ist bloß die Spitze des Eisbergs – oder des Meteoriten, in
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