Der vergessene Tempel
sie marschierten unbeirrt weiter, folgten einem möglichst geraden Weg.
«Die Minoer haben ihre Kultstätten oft auf den Gipfeln von Bergen errichtet», keuchte Marina. Es war fast Mittag, und die Bluse klebte ihr am Leib. «Vielleicht sollten wir es lieber oben auf den Felsen probieren.»
«Von da oben würde es genauso aussehen», hielt Grant stur dagegen. «Und auf dem Bild befindet sich der Tempel unterhalb des Gipfels.»
«Ich habe dir doch schon gesagt, man darf das alles nicht so …» Marinas Worte mündeten in einen überraschten Aufschrei. Sie drängte sich an Grant vorbei auf einen Felsblock am Rande des Wegs zu. Auf diesem Fels lagen, fast verborgen von den Zweigen eines Oleanderstrauchs, vier Steine, die zu einem Häuflein zusammengeschoben waren. Sie schob sie auseinander. Darunter kam ein funkelndes Quadrat aus dünnem Silber zum Vorschein.
«Ein minoischer Schatz?», fragte Grant.
«Fry’s Turkish Delight.» Sie drehte die Folie herum, um ihm das Einwickelpapier zu zeigen. «Diese Schokoriegel hat Pemberton für sein Leben gern gegessen. Wenn er nach England fuhr, brachte er jedes Mal Nachschub mit.»
«‹Voll orientalischer Verheißungen›», murmelte Grant verblüfft den Reklameslogan vor sich hin. «Da frage ich mich doch glatt, was für Überraschungen er uns noch hinterlassen hat.»
Marina kletterte über den Felsen und verschwand im Unterholz. Grant folgte ihr mit skeptischem Kopfschütteln durch die Bäume, bis diese sich lichteten und ein karger Abhang ihn empfing. Marina kniete einige Meter weiter weg neben einem Felsüberhang.
«Ist das der Tempel?» Der Zwischenraum unter dem Überhang war so gering, dass niemand darunter hätte durchkriechen können.
«Sieh doch selbst.»
Grant kauerte sich neben sie. Unter dem Überhang lagen, auf einem Stück Sackleinen, eine Spitzhacke, ein Spaten und eine Paraffinlampe. Die Gegenstände waren rostig, doch auf den Holzgriffen waren die eingeprägten Lettern noch gut zu erkennen: B. S. A.
«Die Britische Schule in Athen», sagte Marina. «Die hatte die Leitung über die Ausgrabungen in Knossos. Bei der war Pemberton angestellt.»
Grant zog den Spaten heraus und schlug damit gegen die Felswand. Ein paar Rostflocken trudelten zu Boden, und ein trauriges Scheppern hallte durchs Tal. Grant sah sich schuldbewusst um.
«Ich dachte, wir wollten möglichst unbemerkt bleiben», sagte Marina und zog spöttisch eine Augenbraue hoch.
«Bisher haben wir doch noch gar nichts gefunden, das irgendwie bemerkenswert wäre.»
Marina nahm die Seilrolle von ihrer Schulter, knotete ein Ende an der Spitzhacke fest und trat den Aufstieg über den herabgestürzten Felsblock an. Grant wartete, bis er sicher war, dass ihm die von ihr gelockerten Steine nicht auf den Kopf kollerten, und folgte ihr dann.
Zunächst war es noch recht einfach, von einem Fels zum nächsten zu klettern. Doch schon bald wurden die großen Steine von kleinen Kieseln abgelöst, die ins Rutschen gerieten, sobald Grant den Fuß auf sie setzte. Die Kletterpartie den Hang hinauf entwickelte sich zu einem Wettlauf; zu dem hektischen Bemühen, sich rascher vorwärtszubewegen, als ihn die herabkollernden Kiesel zurückwerfen konnten. Dann ging auch dieser Abschnitt zu Ende und mündete in schroffes rotes Gestein, und Grant musste sich an einer freiliegenden Baumwurzel festklammern, um nicht wieder den ganzen Hang hinunterzurutschen. Rechts von ihm baumelte das Seilende herab. Grant packte es und kämpfte sich, an das Seil geklammert, Schritt für Schritt nach oben, bis er sich schweißgebadet und unter Verwünschungen über die Felskante hieven konnte.
«Hast du so was immer mit Pemberton gemacht?», fragte er schwer atmend.
«Nein. Aber er selbst hat das offenbar gemacht.»
Grant rappelte sich auf, hob einen Arm, um sich den Schmutz vom Hemd zu klopfen – und hielt verblüfft inne. Sie waren viel höher geklettert, als er vermutet hatte, und auf einem Felsvorsprung fast auf der Mitte der gut dreihundert Meter hohen Felswände angelangt. Sie ragten über ihnen auf, so schwindelerregend steil, dass Grant nicht den Blick zu heben wagte, aus Furcht, aus dem Gleichgewicht zu geraten. Unter ihnen wand sich das grüne Band am Boden der Schlucht auf das in der Ferne glitzernde Meer zu. Vor ihm jedoch, wo die Felswände auf den Vorsprung trafen, klaffte ein dunkler Spalt im Fels, gerade breit genug, dass sich ein Mensch hindurchzwängen konnte. Darüber, fast unsichtbar im Schatten eines
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