Der vergessene Tempel
Überhangs, befand sich in einer in den Fels gegrabenen Nische ein steinernes Tafelbild.
Grant trat vorsichtig näher. Nach dreitausend Jahren war das Relief verwittert; was blieb, waren nur schwache Reste der einstigen, stolzen Darstellung. Die Klauen und Zähne hatten ihre Schärfe eingebüßt, die Mähne und die gespannten Muskeln waren dahingeschwunden. Trotzdem erkannte Grant das Bild auf Anhieb wieder. Er zog den verknitterten Zettel aus der Hosentasche und hielt ihn in die Höhe. «Da haben wir den fliegenden Löwen.»
Marina schüttelte den Kopf, ob vor Verwunderung oder eher entnervt, wusste Grant nicht zu sagen. Sie hob Pembertons Lampe hoch und schüttelte sie. Im Inneren gluckerten noch letzte Reste alten Paraffins.
«Sie hat keinen Docht.»
Marina zog ein Taschenmesser aus der Hose, klappte es auf und schnitt einen dünnen Streifen Stoff vom Ärmel ihrer Bluse. Diesen zwirbelte sie zwischen den Fingern zusammen und schob den so entstandenen Docht in die Lampe.
Grant hielt ihr sein Feuerzeug entgegen. «Wenn du gestattest.»
Kaum sichtbar im grellen Sonnenlicht, leckte die Flamme über den Baumwolldocht. Marina rückte auf den Felsspalt zu, aber Grant war schneller. Er nahm ihr die Lampe aus der Hand und verstellte ihr den Weg, dann zog er den Webley aus dem Halfter. «Ich gehe voran.»
Grant zwängte sich durch den Spalt. Nach etwa zehn Metern begann sich der Durchgang zu verbreitern. Er blieb stehen, hob die Lampe, um unangenehmen Überraschungen vorzubeugen – doch bevor seine Augen sich noch recht umgewöhnt hatten, traf ihn ein spitzer Ellbogen im Rücken und stieß ihn vorwärts. Er stolperte voran in den Raum, heftig mit der Lampe fuchtelnd, damit sie ihm nicht aus der Hand fiel. Als er endlich wieder sicheren Stand hatte, drehte er sich um.
Marina stand mit leicht schuldbewusster Miene in der Türöffnung. «Entschuldige. Ich habe nicht gesehen, dass du stehen geblieben warst.»
«Nur gut, dass hier keine tiefe Grube gähnte, um mich zu verschlingen.»
Aber Grant blieb keine Zeit, seinen Unmut weiterzupflegen. Der Spalt war in eine Kammer gemündet, in deren Wänden noch die jahrtausendealten Spuren der Kupfermeißel zu erkennen waren, die sie einst in den Fels gehöhlt hatten. Längs der Hinterwand verlief eine Bank aus Stein, über der in einer tiefen Nische eine umgedrehte Vase stand. An der Bank lehnte ein holzgerahmtes Sieb, zusammen mit einer Kelle, einem Senkblei, einer Bürste und einem weiteren Schokoladenpapier. Auf der Bank standen, fast wie in einem Museum nebeneinander aufgereiht, einige Figürchen und Artefakte. Grant und Marina kauerten sich vor sie hin – vermutlich ganz ähnlich wie die Menschen, die hier vor Jahrtausenden in Anbetung gekniet hatten.
«Das dürfte eine Art Trankopferschale sein», sagte Marina mit ehrfürchtig gedämpfter Stimme und hob ein flaches Schälchen aus violettem Stein hoch. Ganz behutsam stellte sie es wieder hin und nahm das nächste Objekt in die Hand. Es handelte sich um eine kleine bemalte Tonfigur mit Wespentaille, bauschigem Rock und wie Flügeln erhobenen Armen. Sie sah fast aus wie ein Engel. Bis auf den Umstand, dass das boleroartige Jäckchen, mit dem sie bekleidet war, offen stand und ein Paar Brüste entblößte, die fast waagerecht zum Körper vorstanden.
«Nette Möpse.»
Marina verzog unwillig das Gesicht. «Das ist eine minoische Göttin. Sie war ihre Hauptgottheit – die Quelle aller Fruchtbarkeit und Macht. Diese Art von Darstellung ist sehr verbreitet.»
Grant beugte sich hinüber, um die Figur genauer zu betrachten. «Was sind das für wellige Linien auf ihren Armen?»
«Schlangen.» Marina hielt die Figur zur Lampe hoch. Aus der Nähe konnte Grant es deutlich erkennen: eine Schlange, die sich einen Arm hinaufwand, um ihre Schultern und dann hinunter bis zum anderen Handgelenk. Die Linien auf ihrer Brust, die er für den Saum der Jacke gehalten hatte, entpuppten sich als zwei weitere Schlangen, von denen die eine sich um ihre Brüste herumwand, während die andere über die Hüften bis zum Rock hinabhing.
«Eine gefährliche Frau», stellte Marina schnippisch fest. «Gegen die hättest du keine Chance.»
«Göttinnen sind nicht mein Typ.»
Marina stellte das Figürchen hin und betrachtete die übrigen Funde. Es handelte sich vorwiegend um Teilstücke, die Pemberton nach Typ sortiert hatte: Elfenbeinfragmente, ein halbes Dutzend Siegelsteine mit winzigen Gravuren; zwei doppelköpfige Beile und zahlreiche
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