Der vergessene Tempel
vorstellen: Erdbeben; riesige Flutwellen, die durch das Mittelmeer rollten wie durch eine Badewanne; Ascheregen, der wie Schnee auf die Inseln niederging. Alle minoischen Städte wurden zerstört. Die Kultur brach zusammen.»
«Aber das war nicht das Ende der Minoer», wandte Marina ein. «Ihre Städte wurden zwar verwüstet, aber sie wurden nicht völlig von der Landkarte getilgt.»
«Nein, da haben Sie recht.» Reed hielt inne, während ein Steward vier Tassen mit dampfendem Kaffee auf den Tisch stellte. «Als sich die Staubwolken gelegt hatten, rappelten sie sich wieder auf und versuchten, weiterzumachen. Aber ab jetzt wird die Geschichte komplizierter. Auf einmal tauchen überall auf dem griechischen Festland Zeugnisse minoischer Kultur auf.»
«Vielleicht wurden die ja von den Flutwellen angespült», mutmaßte Grant. Reed beachtete ihn nicht weiter.
«In den großen Zentren Griechenlands – Mykene, Tiryns, Argos – gewinnen minoische Kunst und Keramik zunehmend an Einfluss. Unterdessen finden wir auf Kreta von dieser Zeit an alle möglichen exotischen, fremdartigen Objekte. Neue Arten von Schwertern und Speeren, Streitwagen – Waffen, für die die friedliebenden alten Minoer nie eine Verwendung hatten.»
Muir nahm einen Schluck Kaffee. «Klingt für mich ganz so, als hätten die Griechen die Katastrophe ausgenutzt, um den Minoern eins überzubraten.»
«Oder vielleicht war es umgekehrt», widersprach Marina. «Vielleicht haben ja die Minoer angefangen, Kolonien in Griechenland zu gründen.»
«Verdammt unwahrscheinlich.» Muir verdrehte die Augen. «Die Panzer rollen in die eine Richtung und die Lastwagen mit der Beute in die andere. Das war schon immer so.»
«Darüber sind sich die Gelehrten uneins», stellte Reed beflissen fest. «Die Beweislage lässt hier keine eindeutigen Schlüsse zu. Ich persönlich würde eher Mr. Muir zustimmen. Kreta wurde zu einem Zeitpunkt durch den Vulkanausbruch verheert, als die Festlandsgriechen gerade große Fortschritte machten. Da liegt die Vermutung nahe, dass die überlebenden Minoer ganz naturgemäß unter den Einfluss der Mykener gerieten.»
«Genau wie wir und die verfluchten Amis. Ja, wenn ein Land Pech hat, freut sich …»
Grant räusperte sich. «Wer sind die Mykener?»
«Griechen», erklärte Marina. «Aus dem großen Zeitalter der Heroen.»
«Protogriechen», berichtigte Reed. «Das Zeitalter, aus dem die griechischen Mythen schöpfen und das von Homer geschildert wurde. Die Kultur des Agamemnon, Odysseus, Menelaos und Achilles. Wenn man den Sagen Glauben schenken will. Historisch betrachtet dürfte es sich wahrscheinlich um eine Kultur von Kriegern und Seeräubern gehandelt haben, einen losen Bund halb unabhängiger Stadtstaaten, die einem obersten König mit Sitz in der Hauptstadt Mykene untertan waren. Ihre Blütezeit hatten sie in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends vor Christus – dann, ganz plötzlich, so um das Jahr zwölfhundert …» Reed warf Grant einen bedeutsamen Blick zu. «Peng. War alles verloren, und Griechenland versank wieder in ein dunkles Zeitalter, das fünfhundert Jahre dauerte. Eroberer strömten ins Land – die wahren Vorfahren der modernen Griechen, aller Wahrscheinlichkeit nach. Sie bestaunten all das, was von den Mykenern an Hinterlassenschaften zurückgeblieben war – die gewaltigen Mauern, die fein gearbeiteten Schätze, die ausgeklügelten Waffen und Rüstungen … Dass so etwas jemals von Menschenhand erschaffen werden konnte, erschien ihnen in der Finsternis ihrer eigenen Existenz unvorstellbar, deshalb erfanden sie Mythen, um es sich zu erklären. Die mächtigen Grundmauern aus Stein konnten nur von Zyklopen und Riesen angelegt worden sein; der Schmuck von Handwerkern mit Zauberkräften geschmiedet; nur Helden, die von den Göttern selbst abstammten, hätten solche Schwerter führen können. Statt die Kultur als fruchtbare Herausforderung zu begreifen, erfanden sie, wie es bei Barbaren nun mal üblich ist, phantastische Erklärungen für diese Errungenschaften, um so ihre eigene Dürftigkeit zu entschuldigen.»
«Genau diese Menschen legten aber später die Grundlagen für die gesamte Kultur des Abendlandes», bemerkte Marina spitz. Reeds Vortrag schien sie geradezu als persönliche Kränkung aufgefasst zu haben. «Philosophie, Demokratie, Mathematik, Literatur. Und was die Mythen betrifft, gibt es da noch eine andere Theorie.»
Muir stöhnte auf. «Hört das denn nie auf? Dass es bei Ihnen
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