Der vergessene Tempel
echten Meteoriten bemächtigt und ihn fortgeschafft haben.» Reed schaute den Baityl an, ohne Muirs mühsam unterdrückte Wut zur Kenntnis zu nehmen. «Sehen Sie die kleine Einbuchtung oben in der Spitze? Dort, nehme ich an, dürfte sich das Bruchstück befunden haben, das Pemberton gefunden hat. Man dürfte es abgesägt und hiergelassen haben, um dem Abbild die Kraft des Originals zu verleihen. Eine Besänftigung der Götter, wenn man so will.» Er lächelte fein – wovon Muir jedoch nichts mitbekam.
«Man … man … Um wen geht es denn hier? Um Pemberton? Die Nazis? Irgendeinen kretischen Schafhirten, der sich in die falsche Höhle verirrt hat?»
«O nein.» Reed kniete sich hin und fing an, die auf der Steinbank verteilten Keramikscherben genauer in Augenschein zu nehmen. «Der Meteorit ist schon viel früher verschwunden – vermutlich so um die Zeit, als die Bibel entstanden ist.»
Muir wurde bleich. «Soll das heißen, wir sind zweitausend Jahre zu spät?»
«Nicht das Neue Testament.» Reed schien komplett den Faden zu verlieren, als ein Stück bemalter Keramik seine Aufmerksamkeit erregte. Er hielt es zur Lampe hoch, drehte es hierhin und dorthin. Dann fuhr er ebenso unvermittelt fort, wie er verstummt war. «Man hat den Meteoriten ungefähr zu der Zeit entwendet, als Moses die Juden aus Ägypten herausführte. Vor dreitausend Jahren – womöglich auch ein paar Jahrhunderte früher oder später.»
«Herr im Himmel.» Muir ließ sich gegen die Höhlenwand sacken und steckte sich eine neue Zigarette zwischen die Lippen. Grant und Marina wechselten einen unsicheren Blick, während Reed sich weiter mit den Keramikscherben auf der Bank beschäftigte.
«Was machen wir jetzt?», fragte Muir unbestimmt in den Raum.
Reed stand auf und klopfte sich den Staub von den Knien. Das Licht der Lampe schimmerte auf den Gläsern seiner Brille, und eine hochstehende Haarsträhne warf einen hornähnlichen Schatten auf die Wand hinter ihm. «Ich will es nicht beschwören – aber ich glaube, ich weiß, wo man ihn hingeschafft hat.»
SIEBEN
Dampfschiff Kalisti, nördliche Ägäis. Vier Tage später
«Erklären Sie mir das nochmal.»
Sie saßen draußen auf Deck, während die Fähre quer durch die Ägäis dampfte. Diese Seestraße war immer schon viel befahren worden: Vor langer Zeit hatte sie Helden, Götter und tausend rachedurstige Schiffe vorbeisegeln sehen, ausgezogen, um eine Stadt zu erobern. Manche der Gestalten aus diesen Tagen waren noch immer hier, blickten vom Sternenhimmel herunter: die Zwillinge Kastor und Polydeukes, die mit Jason auf der Argos gesegelt waren; Pegasus, der Perseus und Andromeda übers Meer nach Griechenland getragen hatte; Herakles, der auf diesem Wege gereist war, um seine zwölf Arbeiten zu verrichten. Sie alle schimmerten am Abendhimmel, während der Mond unten aufs Meer einen Pfad aus Silber malte.
«Ich glaube, dass Pemberton die gleiche Vermutung hatte. Jene Zeilen aus der Ilias , die er aufgeschrieben hat – er wird dabei nicht nur an die Deutschen gedacht haben. Er muss sie gelesen haben, weil er eine Verbindung hergestellt hat.» Reed rückte ein wenig auf der harten Holzbank herum und zog sich den Schal enger um den Hals. Um ihn herum saßen Muir, Grant und Marina und warteten wie Studenten in einem Seminar. Auf dem Tisch zwischen ihnen lagen zwei Keramikscherben, das Tontäfelchen und Pembertons Notizbuch.
«Um diese Geschichte zu verstehen, muss man bei den Minoern anfangen. Oder vielmehr bei ihrem Untergang. Um das Jahr 1500 vor Christus befanden sie sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Was sie damals auf den Gebieten der Architektur, Malerei, Bildhauerei und Schrift erreichten, blieb für die nächsten tausend Jahre im gesamten Europa unübertroffen. Dann …»
«Peng.»
Reed warf Grant einen strengen Blick über den Rand seiner Brille zu. «Ist Ihnen diese Geschichte bekannt, Mr. Grant?»
«War nur so eine Vermutung. Gerade wenn alles glattläuft, sollte man auf der Hut sein und seine Waffe laden. Zumindest ist das meine Erfahrung.»
«In diesem Fall ist ‹peng› absolut zutreffend. Ein gigantischer Vulkanausbruch auf der Insel Thera, heute auch als Santorin bekannt – oder was davon noch übrig ist. Wo Thera sich einst befand, gibt es heute nur noch einen Ring kleinerer Inseln um ein sehr großes Loch im Meer herum. Der Ausbruch sprengte den Gipfel – die Erde dürfte dabei bis in ihr Innerstes erschüttert worden sein. Was darauf folgte, können Sie sich
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