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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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immer noch eine andere Theorie geben muss …»
    «Wenn wir erst aufhören, Theorien zu formulieren, haben die Barbaren gewonnen», sagte Reed mit Nachdruck.
    Was Marina ihm gegenüber merklich milder zu stimmen schien. «Was wäre, wenn die Mythen gar nicht von den Eroberern stammen?», fragte sie. «Wenn es sich um von den Mykenern selbstverfasste Geschichten handelte, die durch die Generationen hindurch überliefert wurden?»
    «Das dürfte eher unwahrscheinlich sein», sagte Reed. «Die Mythen sind so verwickelt und widersprüchlich – sogar die Griechen hatten Mühe, sich darin halbwegs zurechtzufinden, als sie versuchten, sie schriftlich festzuhalten.»
    «Was ist mit Homer?»
    «Homer war ein Dichter.» Reeds sonst so milder Tonfall gewann auf einmal unerwartet an Schärfe. «Die Mythen waren das Garn, aus dem er seine Schöpfung gewoben hat, aber das Ergebnis ist reine … Dichtung.»
    Muir gähnte. «Ist das von Belang?»
    Reed brummelte halblaut etwas von Barbaren vor sich hin, während Marina ihren Kaffee trank und säuerlich das Gesicht verzog.
    «Grob teleologisch betrachtet, ist für Sie nur von Belang, dass die Mykener – vermutlich – in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends vor Christus nach Kreta gekommen sind. Falls sie nach hergebrachter Eroberersitte verfahren sind, können wir annehmen, dass sie eine Anzahl von Schätzen mit heimgeführt haben. Darunter, möglicherweise, auch den Baityl – den Meteoriten. Von der Keramik, die wir in dem Höhlenheiligtum gefunden haben, scheint einiges mit Sicherheit mykenischen Ursprungs zu sein.»
    «Das erklärt auch das Bild auf dem Täfelchen», sagte Grant, froh darüber, sich konstruktiv an dem akademischen Disput beteiligen zu können. «Die Wellen», präzisierte er als Antwort auf die fragenden Blicke, die er erntete. «Die befinden sich im Vordergrund. Es ist so dargestellt, wie man es vom Bug eines Schiffes aus sehen würde. Man sieht sogar …» Er nahm das Täfelchen vom Tisch und betrachtete es eingehend. Die Darstellung des Tals nahm den größten Raum ein, doch in der unteren rechten Ecke – direkt über der schartigen Kante, wo das Täfelchen abgebrochen worden war – konnte er einen dunkelbraunen Fleck erkennen. Auf den ersten Blick hatte er ihn wohl irrtümlich für eine Verunreinigung gehalten, einen Schmutzfleck, doch dafür waren die Umrisse zu sauber. Er zeigte es den anderen. «Das könnte ein Schiffsbug sein.»
    «Oder die Spitze eines weiteren Paars heiliger Hörner», sagte Marina zweifelnd. «Oder – alles Mögliche. Du kannst nicht davon ausgehen, dass antike Künstler die Welt so sahen wie du, das habe ich dir schon mal gesagt.»
    «Bisher sind wir aber damit ganz gut gefahren.»
    «Hoffen wir mal, dass Ihre Glückssträhne anhält.» Muir warf eine Zigarettenkippe über die Schiffsreling. «Na egal – die Mykener kamen also nach Kreta und taten, was siegreiche Invasoren so tun: Sie legten Paläste in Schutt und Asche, bemächtigten sich der Frauen und plünderten die Schätze. Dann haben sie noch unseren heiligen Meteoriten fortgeschafft – vermutlich nach Mykene, oder?»
    «Das hätten sie tun können – aber daran glaube ich nicht.» Reed sah sich um. Zu dieser späten Stunde hatten sich die meisten Passagiere ins Schiffsinnere zurückgezogen, doch da das Osterfest in drei Tagen bevorstand, war das Schiff voll mit Inselbewohnern auf dem Nachhauseweg. Dunkle Häuflein waren auf dem Deck zu erkennen, wo sich Männer und Frauen zum Schlafen hingelegt hatten, während weiter vorne ein Grüppchen Wehrpflichtiger um einen Poller herum kniete und Karten spielte, mit Zigaretten als Einsatz. Auf einer Bank saß einsam unter einer nackten Glühbirne ein graubärtiger Pope, der in seiner Hand ein Gebetskettchen aus silbernen Perlen auf und ab schnellen ließ. Klack – gegen seine Knöchel. Klick – gegen seine Handfläche. Es war ein zeitloses Geräusch, so natürlich wie das Knarren des Schiffs oder das Schwappen der Wellen.
    Reed beugte sich vor. «Die Mykener hatten nichts gegen die minoische Religion. Kriege im Namen der Religion – gegen jemanden zu kämpfen, weil er zu einem anderen Gott betet, und ihn nach der Niederlage vor die Wahl zu stellen, sich entweder bekehren zu lassen oder umgebracht zu werden – sind eine viel modernere Erfindung. Eine Neuerung, die wir dem Christentum zu verdanken haben. Die Alten waren wesentlich aufgeschlossener und offener, wenn es um Götter ging. Wenn man einen Feind besiegt

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