Der vergessene Tempel
«Vielleicht befindet es sich auch in einem anderen Teil des Tempels – oder wir sind sogar am völlig falschen Ort.»
«Das lässt sich nur auf eine Weise feststellen.» Grant trank einen letzten Schluck Wasser und griff sich dann einen Spaten. «Ich werde weitergraben.»
Seine Bemühungen aber waren nur von kurzer Dauer. Nach einer Viertelstunde spürte er, wie der Spaten auf etwas Hartes stieß. Er kniete sich im Graben hin und scharrte die Erde mit den Händen beiseite, um die Ränder des Steins zu finden, gegen den er gestoßen war. Doch was er fand, war eine plane Fläche. Unter Einsatz seiner Hände und des Spatens hatte er bald eine durchgehende Felsoberfläche freigelegt, die von einem Ende des Grabens bis zum anderen reichte.
Marina hakte eine der Lampen los und hielt sie ins Loch hinab. «Grundgestein.» Sie fluchte leise vor sich hin. «Das muss der Boden des ursprünglichen Tempels gewesen sein. Man sieht noch die Spuren, wo damals mit Meißeln Unebenheiten beseitigt worden sind.»
«Wenigstens müssen wir jetzt nicht mehr tiefer graben.» Grant ließ den Spaten zu Boden fallen und rieb seine schwieligen Hände. «Dürfte wohl zu spät sein, jetzt noch ins Tal hinabzusteigen. Das müssen wir morgen früh angehen.»
Grant sammelte die Ausrüstung ein und reichte sie durch das Loch im Boden an Reed. Marina beachtete ihn nicht weiter. Sie stand bis zur Hüfte im Graben und untersuchte die Quadermauer, wobei sie hin und wieder die Erdkruste mit einem kleinen Pinsel entfernte. Als Grant das letzte Werkzeug herausgereicht hatte, wandte er sich um. Marina kauerte neben der Mauer, mit dem Gesicht ganz dicht vor dem Stein, während sie mit dem Finger an irgendetwas entlangfuhr. Was ihm sofort auffiel, war der Ausdruck ihres Gesichts. Es leuchtete geradezu vor Konzentration, und aus ihren dunklen Augen sprach ehrfürchtiges Staunen.
In Sekundenschnelle fiel alle Müdigkeit von Grant ab. Er hastete durch den niedrigen Raum und stieg zu ihr in den Graben hinab. Sie sagte nichts, packte bloß seine Hand und drückte sie gegen die Mauer. Ihre Haut fühlte sich an seiner warm an, der Stein dagegen war kalt. Sie führte seine Hand in einem langsamen, gewölbten Bogen an der Mauer hinab. «Fühlst du das?»
Ja, er fühlte es – einen Bogen aus winzigen, in den Stein geritzten Furchen. Er zog seine Hand zurück und musterte ihn genauer. Dreitausend Jahre hatten ihn fast völlig abgeschliffen, bis kaum mehr als ein Schatten zurückgeblieben war, doch seine Hand hatte ihm verraten, wonach er Ausschau halten musste. Er fuhr mit den Fingern abermals darüber, ertastete einen auf die Seite gekippten Halbmond. Ein Paar Stierhörner.
«Wir müssen ihn herausziehen.» Marina zückte ihr Taschenmesser und versuchte, die Klinge in den haarfeinen Spalt am Rand des Steinquaders zu schieben.
«Der wiegt doch bestimmt eine Tonne», sagte Grant zweifelnd. Der Stein war etwa einen Meter breit, dreißig Zentimeter hoch und wirkte nochmal so tief. «Um den herauszubekommen, bräuchtest du Dynamit.»
«Die Mykener hatten auch kein Dynamit.» Marina stocherte weiter mit ihrem Messer herum. Grant ließ sie machen und kletterte aus dem Graben heraus.
Muir steckte den Kopf durch das Loch im Boden der Kirche. «Wollen Sie die ganze Nacht da unten verbringen?»
«Marina glaubt …»
Grant schnellte herum, als ein gewaltiger Knall durch den Keller hallte. Marina stand mit ihrem Messer in der Hand im Graben, und selbst im trüben Lampenschein konnte er sehen, dass ihr Gesicht weiß von Staub war. Zu ihren Füßen lag eine Steinplatte, durch den Aufprall auf dem Grundgestein in drei Stücke zerschmettert. In der Mauer darüber gähnte jetzt eine dunkle Öffnung.
«Es war nur eine Platte.» Sie zitterte sichtlich – vermutlich hatte sie der schweren Steinplatte nur mit knapper Not ausweichen können. «Eine Tür.»
«Da hat aber jemand vergessen, die Scharniere zu ölen.» Grant sprang wieder in den Graben. Die Öffnung war kaum hoch genug, um sich als ausgewachsener Mann hindurchzwängen zu können. Er schob den Arm hinein und tastete herum.
«Hinter der Mauer erweitert sich der Durchgang ein bisschen. Nicht viel, aber vielleicht reicht es …»
Er nahm die Laterne vom Rand des Grabens und schob sie durch das Loch. Im Licht der Flamme waren glatte Steinwände zu erkennen, dahinter aber lag alles in tiefer Finsternis.
«Schauen wir doch mal, was sich da drinnen verbirgt.»
ELF
Er kam sich vor, als versuchte er, sich durch
Weitere Kostenlose Bücher