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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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Aufstieg am gegenüberliegenden Hang an. Als er sich dem Kamm näherte, verlangsamte er seinen Schritt. Er konnte die schwarzen Äste der verkohlten Kiefer über die Böschung oberhalb von ihm ragen sehen. Eine leichte Brise erhob sich – und inmitten der Wildblumen und Gräser war schwach das Aroma von Zigarettenrauch wahrzunehmen. Da oben befand sich offenbar jemand. Hören konnte er aber nichts.
    Er pirschte sich leise nach links, bewegte sich um den Kamm herum, um zu dessen Rückseite zu gelangen. Ein Schmetterling flatterte an ihm vorüber; ringsum in den Sträuchern summte es von Bienen und Fliegen. Überall sonst wäre es ein idealer Tag gewesen, um sich mit einem kalten Bier und einem Mädchen im Gras auszustrecken. Er umklammerte den Webley fester.
    Auf dem Kamm über ihm erwachte unvermittelt ein Motor röhrend zum Leben. Grant schlug alle Vorsicht in den Wind, rannte die letzten paar Meter die Böschung hinauf und schaute nach unten. Über der ungepflasterten Straße, die sich um den nächsten Berg herumwand, senkte sich langsam eine Staubwolke herab. Grant rannte nach unten und um die Kurve herum – gerade noch rechtzeitig, um in der Ferne ganz klein ein Motorrad zu sehen, das gerade außer Sichtweite verschwand. Er starrte ihm kurz nach – doch unternehmen konnte er nichts.
    Fluchend machte er kehrt. In dem Abhang befand sich eine kleine Senke, direkt hinter dem Kamm, von dem aus der überkragende Berggipfel gegenüber zu überblicken war. Hier war das Gras platt gedrückt, und ein halbes Dutzend weißer Röhrchen lag am Boden verstreut. Grant hob eins auf, schnupperte daran. Es waren Zigarettenkippen – wobei aber gute zwei Zentimeter der Zigarette hohl waren, als hätte der Hersteller nur die Hälfte mit Tabak füllen können. Noch dazu mit minderwertigem Tabak. Zumindest legte das der Geruch nahe.
    Soweit Grant wusste, gab es nur ein Land, wo man derart scheußliche Zigaretten herstellte. Ein paar davon hatte er während seines kurzen Gastspiels an der Ostfront geraucht, ebenso sehr der Wärme wie des Nikotins wegen. Offensichtlich waren die fünf Männer, deren Leichen jetzt auf dem Meeresgrund lagen, nicht die einzigen Russen auf der Insel gewesen.

    «Sie haben uns beobachtet.»
    «Verdammt.» Muir warf seine Zigarette in das Marmorbecken, wo sie zischend erlosch. «Wie lange waren die da?»
    Reed zwinkerte nervös. «Ich habe sie leider gar nicht bemerkt.»
    «Na, dann passen Sie in Zukunft ein bisschen besser auf, verflucht.» Er wandte sich Grant zu. «Meinen Sie, die kommen nochmal wieder?»
    «Vielleicht. Aber nach der Nacht neulich werden sie sich hüten, uns zu nahe zu kommen.»
    «Das wollen wir mal hoffen.»
    Der Tag verdüsterte sich. Von Westen her zogen Wolken auf, die sich dunkel über dem Berggipfel zusammenballten. Bei einem seiner Abstecher ins Freie, um den Eimer zu leeren, sah Grant die Sonne tief zwischen den Wolken und dem Meer hängen, eine orange glühende Masse. Als er das nächste Mal hinauskam, war sie verschwunden. Es wurde Nacht, doch im Keller herrschte weiter dasselbe funzelige Halbdunkel der Petroleumlampen. Der Graben an der Rückwand war inzwischen gut einen halben Meter tief; als Grant in den Keller zurückkehrte, wirkten die anderen drei auf ihn wie Zwerge, die in den Eingeweiden der Erde schufteten.
    Die Arbeit geriet ins Stocken. Sie hatten die oberen Fundamente freigelegt und waren zu einer tieferen Schicht gelangt, breite Steinplatten, die ohne Mörtel aufeinandergeschichtet waren. Da der Boden jetzt zu gleichen Teilen aus Geröll und Erde bestand, wurde das Graben beschwerlicher. Sie mussten ihn Stück für Stück abtragen. Es war kräftezehrende Plackerei, bei der sie sich schon bald die Hände zerschrammten und die Fingernägel einrissen.
    Um neun Uhr legten sie eine Pause ein, um sich ein Abendbrot zu gönnen. Sie setzten sich in den Hof, wo sie, leicht fröstelnd in der kühlen Luft, das Brot und den Käse verzehrten, die ihnen der Hotelbesitzer am Morgen mitgegeben hatte. Sterne waren am Himmel nicht zu sehen.
    «Wie weit sind wir schon nach unten vorgedrungen?», fragte Grant.
    «Diese großen Quadersteine sind sehr alt.» Marina hatte Reeds Jackett um ihre Schultern gelegt, und ihre Augen wirkten glasig. «Wir müssten schon sehr dicht dran sein.»
    «Falls es irgendetwas zu finden gibt», dämpfte Reed düster die Erwartungen. Seine ausgelassene Stimmung vom Vormittag war, wohl nicht zuletzt wegen der mühsamen Schufterei, gänzlich verflogen.

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