Der vergessene Tempel
obwohl Marina ihn nicht sehen konnte. «Da unten ist eine Öffnung. Ich werde nachsehen, wo sie hinführt.»
Marina löste seine Schnürsenkel und zog ihm die Stiefel aus, ließ jedoch das Seil an seinem Knöchel. Seine Kleidung behielt er an, denn es war viel zu eng, um sie auszuziehen.
«Sei vorsichtig.» In der Finsternis klang ihre Stimme klein und hohl.
Grant rückte vorwärts und ließ sich mit dem Gesicht voran ins Wasser gleiten. Es war verblüffend lau – fast wie ein warmes Bad. Er tauchte ganz hinein, kostete das ungewohnte Gefühl von Bewegungsfreiheit aus. Sogar umdrehen konnte er sich, um Marina anzuschauen. Sie war bis an den Rand des Beckens gekrochen, und ganz kurz berührten sich fast ihre Gesichter.
«Gib mir zwei Minuten», sagte er. «Und dann zieh, was du nur kannst.»
Das Wasser schloss sich über seinem Kopf wie ein Sarg. Er tauchte zum Boden hinab, tastete mit den Händen herum, bis er die Öffnung im Fels gefunden hatte. Sie schien etwa dieselben Abmessungen wie der Tunnel darüber zu haben – breit genug, um sich hindurchzubewegen, zu eng, um sich zu drehen. Er glitt hinein, stieß sich das Knie am Felsboden. Die Salze im Wasser brannten ihm in den Augen, also schloss er sie – zu sehen gab es ja ohnehin nichts. Er konnte nur die Hände gegen die vom Alter glattgespülten Wände drücken und sich weiter vorwärtsstoßen.
Zwei Minuten . Wie lange war das? An einem Ort ohne Licht, ohne Geräusche, ohne Oben oder Unten, wie konnte man da die Zeit messen? Grant wusste nicht, wie lange er sich jetzt schon dort aufhielt – und auch nicht, wie weit er schon gelangt war. Spielte es eine Rolle, wenn man nicht wusste, wie weit der Weg war, den man zurücklegen musste? Anfangs versuchte er noch, seine Schwimmstöße zu zählen, verlor aber bald den Überblick. Ein dumpfer Schmerz machte sich in seiner Lunge breit, und seine Bewegungen verloren an Kraft. Er müsste bald umkehren. Zwei Minuten .
Der Tunnel verbreiterte sich. Die Wände entzogen sich Grants Händen, und damit schwand sein letzter Kontakt mit der greifbaren Welt. Er schwebte frei im Raum – schwerelos, empfindungslos, zeitlos. Er vergaß alles und wurde zu nichts. Er war allein mit den Göttern, ein Fischlein, das sich vorwärtsbewegte, angetrieben von einem Schicksal, das ihm unergründbar war.
Ein heftiger Schmerz zuckte ihm durch den Schädel. Offenbar war er nach oben getrieben und hatte sich den Kopf an der Felsdecke gestoßen. Ein Brennen erfüllte inzwischen seine Lunge, doch als er die Lippen öffnete, drang nichts als Wasser hinein. Luft gab es in diesem Tunnel nicht. Hatte er überhaupt noch genug in der Lunge, um umzukehren?
Er öffnete die Augen – und starrte nach vorn, dem brennenden Schmerz zum Trotz. Vor ihm schien das Wasser in goldenem Licht zu erstrahlen: das wärmste, freundlichste Licht, das er je gesehen hatte. Er wollte ihm nahe kommen; wenn er dieses Licht erreichte, das wusste er, würde alles gut. Der Schmerz verschwand; sein Körper entspannte sich. Er unternahm einen letzten Schwimmzug, fast wie in einem Traum. Das goldene Licht war jetzt viel näher, rings um ihn herum, und er stieg empor, immer weiter empor …
Platschend und mit einem Japser der Erleichterung schoss sein Kopf aus dem Wasser. Der Schmerz kam zurückgeflutet, aber diesmal schmeckte er Luft, als er den Mund öffnete. Gierig atmete er sie ein, kniff die Augen zusammen, während ihm das Wasser am Gesicht hinabströmte. Erst als seine Lunge zufriedengestellt war, sich nicht mehr anfühlte, als würde sie gleich zerreißen, wischte er sich über die Augen und schlug sie auf.
Das Licht versengte ihm beinahe die Augäpfel, und ein heißer Atem fauchte ihm ins Gesicht. Erschrocken zuckte er zurück, während die Flammen vor ihm emporschossen und Wassertröpfchen zischend verdampften. Er schloss seine brennenden Augen und öffnete sie dann einen kleinen Spalt. Er war in einem Teich in einer anderen kleinen Kammer aufgetaucht, die allerdings nicht in Gestein mündete, sondern in eine Wand aus Flammen. Vor Staunen schnappte er laut nach Luft. Die Flammen schienen aus dem Fels selbst hervorzulodern, und die Wände ringsum waren schwarz von Ruß, weich geformt wie geschmolzenes Wachs.
Wasser tretend reckte Grant einen Zeh nach unten, bis er den Boden ertastete. Allzu tief war das Becken nicht. Ohne den Blick vom Feuer abzuwenden, stellte er beide Füße auf den Boden – und wurde fast umgehend umgerissen, als heftig an dem Seil an
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